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Früher abgestempelt, heute begehrt

Matilda Jordanova-Duda18. Dezember 2015

Die Wirtschaft entdeckt die Studienabbrecher: Duale Ausbildungsprogramme für sie schießen überall in Deutschland wie Pilze aus dem Boden. Denn in den Betrieben bleiben immer mehr Lehrstellen unbesetzt.

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RWTH Aachen Haupteingang - Foto: picture-alliance/dpa/M. Becker
Allein in Aachen brechen jährlich rund 3.500 Studenten ihr Studium ab - Unternehmen werben um sieBild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Im dritten Semester zog Niklas Hönmann die Reißleine: Sein Studium der Geographie und Betriebswirtschaft in Aachen war nicht das, was er sich versprochen hatte. "Die Klausuren bereiteten mir keine Schwierigkeiten", sagt der 23-Jährige, "aber viele Themen schienen mir zu weit weg von der Wirtschaft. Ich sah keine Verbindung zum späteren Berufsleben." Die Studienberatung empfahl ihm, zur Fachhochschule zu wechseln oder ein anderes Fach zu wählen. Doch der er meinte, die akademische Ausbildung an sich sei das Problem.

Seit anderthalb Jahren ist Hönmann nun Azubi. Den Beruf des Industriekaufmanns erlernt er beim Aachener Medizintechnik-Hersteller Vygon. Zurzeit wird er im technischen Einkauf eingesetzt, vergleicht Lieferantenangebote für Werkzeug und Rohstoffe, verhandelt Preise. "Hier sehe ich die Ergebnisse meiner Arbeit", sagt der Azubi. "Im Studium schrieb ich zwar meine Klausuren, hatte aber nicht das Gefühl, etwas geleistet zu haben." Da Vygon auf die Produktion hochwertiger Pädiatrieartikel wie Katheter für Säuglinge und Frühchen spezialisiert ist, bekomme er manchmal Dankesbriefe von den Familien, erzählt Hönmann: "Es hat ihnen geholfen, dass wir ein Produkt schnell liefern konnten. So, denke ich, mache ich wirklich etwas Sinnvolles."

Niklas Hönmann und Ausbilder Markus Patzelt - Foto: DW/M. Jordanova-Duda
Niklas Hönmann (l.) wird in der Abteilung "Technischer Einkauf" von Markus Patzelt (r.) ausgebildetBild: Matilda Jordanova-Duda

Erfolgreiche Ausbildung

Seine Lehrstelle hat der Studienabbrecher durch "Switch" gefunden. Gegründet wurde das Projekt vo vier Jahren von der Stadt Aachen. "Switch" kooperiert mit den Hochschulen und rund 150 meist kleineren und mittleren Unternehmen aus der Region, um einen "fließenden Übergang von einem erfolglosen Studium in eine erfolgreiche Ausbildung" zu ermöglichen. Bei über 250 Studienabbrechern sei das bisher gelungen, sagt Projektleiter Peter Gronostaj.

Zuerst prüft man die Voraussetzungen der Bewerber in einem Eignungstest. Die Partnerunternehmen bekommen dann unverbindlich die Kurzprofile geeigneter Personen. Bewerber wiederum bekommen nur das positive Feedback - wenn jemand absagt, erfahren sie das nicht. "Das klassische Klinkenputzen fällt weg", lobt Hönmann. Er wurde von sieben Unternehmen zum Gespräch eingeladen. Das hat sein Selbstbewusstsein aufpoliert, denn "ein bisschen geknickt" war er nach dem Studienabbruch schon.

Verlorene Zeit nachholen

Möglich ist, Vorkenntnisse anrechnen zu lassen und im günstigsten Fall die Lehre in der Hälfte der Regelzeit zu absolvieren. "Je länger man an der Hochschule war, desto schneller will man die verlorene Zeit nachholen", weiß Gronostaj.

Bewerbung / Lebenslauf - Foto: Fotolia/marog-pixcells
Kurzprofile statt klassischer Lebensläufe: Studienabbrecher werden unkompliziert an Unternehmen vermitteltBild: Fotolia/marog-pixcells

Das letzte Wort in dieser Frage hat freilich das Unternehmen. Wichtig ist, inwieweit die Studien- und Ausbildungsinhalte übereinstimmen. Aber auch, wie die jeweilige Ausbildung aufgebaut ist. "Bei uns lernt jeder Azubi alle Bereiche kennen", sagt Vygon-Personalleiter Erwin Palm. Ein angehender Industriekaufmann bekäme auch Einblick in Produktion, Engineering, Qualitätswesen und Lager. "Das braucht seine Zeit, deshalb haben wir von Anfang an gesagt, wir praktizieren keine Verkürzung." Hönmann sieht das ein. Dennoch hält er die wöchentlichen Pflichttage in der Berufsschule für vergeudete Zeit. Die würde er lieber im Betrieb verbringen.

Millionenschwere Projekte für Studienabbrecher

Studienabbrecher hatten schon immer die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen. Aber erst seit wenigen Jahren bemühen sich die Firmen gezielt um sie. Kleine und mittlere Unternehmen können jede zweite ausgeschriebene Lehrstelle nicht besetzen, unter anderem weil immer mehr Jugendliche studieren wollen. Seit Anfang dieses Jahres werden bundesweit 18 Projekte im Rahmen des Programms "Jobstarter plus" mit Mitteln des Bundesbildungsministeriums und des Europäischen Sozialfonds gefördert. In den kommenden drei Jahren gibt es für die Beratung und Vermittlung von Studienabbrechern mehr als sieben Millionen Euro. Daneben gibt es noch weitere Projekte, die sich aus Kooperationen mit der Wirtschaft finanzieren.

Erwin Palm und Peter Gronostaj - Foto: DW/M. Jordanova-Duda
"Switch"-Projektleiter Peter Gronostaj (r.) setzt auf enge Zusammenarbeit mit Personalchefs wie Erwin Palm (l.)Bild: Matilda Jordanova-Duda

Laut einer Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung werden bei der Auswahl junge Leute bevorzugt, deren Studium einen Bezug zum Ausbildungsberuf hatte und die, so wie Hönmann, frühzeitig den Absprung schaffen. Doch die Arbeitgeber sind grundsätzlich für alle offen: Kritiker befürchten schon, der "halbakademische Nachwuchs" könnte leistungsschwache Jugendliche vom Ausbildungsmarkt verdrängen.

Positive Erfahrungen

Vygon hat gleich zwei "Switch"-Azubis geholt und will noch weitere suchen. Der Betrieb mit 250 Mitarbeitern bildet in sechs Berufen aus. Immer weniger junge Leute wollten Werkzeug-Mechaniker, Mechatroniker oder Verfahrensmechaniker werden, beklagt Palm. Für den Industriekaufmann gebe es zwar noch reichlich Interesse, aber die Schulnoten, die Allgemeinbildung sowie die Motivation der Bewerber ließen zu wünschen übrig. Die bisherigen Erfahrungen mit der neuen Zielgruppe sind hingegen positiv. "Schon im Vorstellungsgespräch zeigten sich eine gewisse Reife und Vorbildung", sagt Ausbilder Markus Patzelt.

Ausgeschöpft ist das Potenzial der Studienabbrecher noch lange nicht: Allein in der Hochschulstadt Aachen gegen jedes Jahr schätzungsweise 3500 ihr Studium auf. Deshalb werben einige Vermittlungsprojekte direkt auf dem Campus und versuchen, schon Studienzweifler zu identifizieren.