Am 6. Mai 1856 wurde Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, geboren. Die Diskussionen um seine Arbeit werden 150 Jahre später kontroverser denn je geführt.
Sigmund-Freud-Büste im Wiener Museum
Sein Leben sei "äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu erledigen". Mit diesen Worten speiste er einen Biografen ab. Und in der Tat, ihn selbst interessierte nur sein Lebenswerk: die Psychoanalyse, seine bekannteste Hinterlassenschaft.
Schon zu seinen Lebzeiten hat sie ihren Siegeszug angetreten. Als Therapie seelischer Krankheiten wird sie heute noch weltweit praktiziert. Mehr noch: Die Lehre vom Unbewussten hat das Selbstbild des modernen Menschen des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt.
Viele Teile des Freudschen Werkes sind in den vergangenen Jahrzehnten überarbeitet worden. Nach Meinung des Psychoanalytikers und Freud-Experten Uwe Henrik Peters ist Freud immer noch der weitaus wichtigste Ideengeber für die gesamte Psychoanalyse.
Freuds wichtigste Erkenntnis: Das menschliche Denken und Handeln wird nicht von der Vernunft geleitet, sondern von unbewussten Motiven. Und er stellte fest, dass in unbewussten, verdrängten Wünschen die Ursachen für seelische Krankheiten liegen. Insbesondere in sexuellen Wünschen, die bis weit in die Kindheit zurückreichen. Seine Aufgabe als Arzt sah er darin, die Patienten auf ihrem Tauchgang in die Vergangenheit zu begleiten. Ihnen zuzuhören, wenn sie im Schutzraum des Behandlungszimmers - auf der berühmten Couch - frei und unzensiert sprechen konnten.
Denn nichts anderes ist die psychoanalytische Therapie: Eine Rede-Kur, bei der der Patient sich letzten Endes selbst heilt. Ohnehin ging Freud davon aus, dass die Grenze zwischen so genanntem krankhaften und normalen Verhalten fließend ist. Ein revolutionärer Gedanke, der aus dem hierarchischen Arzt-Patienten-Verhältnis einen "Forschungsprozess zwischen zwei Personen" gemacht hat, wie der prominente Analytiker Wolfgang Schmidtbauer es heute nennt.
Natürlich war Freud auch nicht frei von Irrtümern. Seine Theorie der weiblichen Sexualität zum Beispiel gilt heute als überholt und selbst seine wichtigste Annahme, dass jeder Sohn in die Mutter verliebt sei und den Vater als Rivalen erlebe, wird von Fachleuten bezweifelt. Allerdings, so Peters: "Dass Freud die große Kraft und Möglichkeit der Sexualität aufzeigt, ist zeitlos."
Wenn die Psychoanalyse heute nur noch eine unter vielen Formen der Therapie ist, kann man das allerdings nicht ihrem Erfinder anlasten. Denn Freud selbst hat sie nie ausschließlich als Behandlungsmethode verstanden. Er zielte - und das bleibt seine herausragende Leistung - auf eine umfassende Theorie.
GLOSSAR:
Komparativ + denn je – mehr und intensiver als früher
jemanden mit etwas abspeisen – jemanden mit wenig zufriedenstellen und so versuchen ihn schnell loszuwerden
Hinterlassenschaft, die – das Erbe
seinen Siegeszug antreten – beginnen, erfolgreich zu sein
praktizieren – anwenden; ausüben
nachhaltig – von langer Wirkung
weitaus – mit Abstand
in etwas (hier: in die Kindheit) zurückreichen – in etwas (hier: in der Kindheit) seinen Anfang haben
unzensiert – frei von Zensur; ohne Einschränkungen
Kur, die – die Behandlung; die Therapie
letzten Endes – schließlich
Irrtum, der – ein Versehen, Fehler; ein falscher Eindruck
überholt – nicht mehr modern; veraltet
Annahme, die – die Vermutung
zeitlos – immer aktuell; nicht abhängig von einer Mode oder Zeit
jemandem etwas anlasten – jemandem die Schuld an etwas geben
ausschließlich – nur; allein