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Politik

Frauenpower im Libanon

Kersten Knipp | Dina El Basnaly
24. Oktober 2019

Bei den Protesten im Libanon stehen Frauen mit in vorderster Reihe. Sie ermutigen damit auch Mitstreiterinnen in anderen arabischen Ländern sich einzumischen. Doch es gibt auch Häme und Spott - von männlicher Seite.

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Libanon Demonstration & Proteste in Beirut
Bild: Getty Images/AFP/I. Amro

Der Tritt kommt zielgenau aus der Hüfte, entschlossen und rasant. Dem Leibwächter des libanesischen Ministers bleibt nichts anderes, als dem Angriff durch einige Schritte zurück auszuweichen und sich so vor der jungen Libanesin zu schützen, die ihn gerade attackiert.

Das Video, das diese Szene festhält, wurde in den sozialen Medien im Libanon und anderen arabischen Ländern in unterschiedlichen Postings bereits mehrere zehntausend Mal geklickt. Der Vorfall ereignete sich libanesischen Medienberichten zufolge am Donnerstagabend vergangener Woche (17.10.). An jenem Tag geriet der Konvoi von Bildungsminister Akram Chehayeb in Zentral-Beirut in einen der Demonstrationszüge in der libanesischen Hauptstadt.

Als die Situation immer brenzliger wurde, stieg einer der Leibwächter des Ministers aus dem Auto und feuerte mit einem Gewehr in die Luft - eine Geste, die die Demonstranten noch stärker provozierte. Daraufhin trat die junge Frau in Karate-Technik nach dem Leibwächter. Der verstand offenbar umgehend, dass er in der unbewaffneten Auseinandersetzung mit der Frau schlechte Karten hatte.

Die Proteste sind weiblich

Die Botschaft des gerade fünf Sekunden langen Videos ist klar:  Die seit Tagen anhaltende Demonstration der Libanesen gegen die sozialen und politischen Missstände im Land fällt höchst entschlossen aus – und sie ist zu guten Teilen weiblich.

Das Video von der Frau mit dem schnellen Tritt animierte viele Userinnen und User zu Kommentaren, die meisten zustimmend, viele sogar begeistert. Ein User nannte die junge Frau "Lara Croft aus dem Libanon". "Respekt!" notierte ein anderer Nutzer kurz und knapp.

An den derzeitigen Protesten beteiligen sich auffällig mehr Frauen als normalerweise im Libanon. Auch die Bürgerinnen des Landes wollten sich in die Politik einmischen, sagt der aus Algerien stammende Soziologe Nasser Al-Jabi anerkennend.

"Die gesamte Gesellschaft interessiert sich für die Entwicklungen der vergangenen Tage", so Al-Jabi gegenüber der DW. Als besonders positiv bewertet er den Umstand, dass die Proteste bisher überwiegend friedlich geblieben seien und grundsätzlich niemand davon ausgeschlossen worden sei. "Das könnte ein Beispiel auch für Proteste anderswo werden", erwartet der Soziologe.

Anders als die eingangs geschilderte handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Demonstrantin und Bodyguard vielleicht suggerieren könnte, sind es gerade Frauen, die sich immer wieder für unbedingte Gewaltlosigkeit bei den Protesten einsetzen.

"Es gibt unter den Demonstranten einige, die bei den Protestzügen öffentliches Eigentum zerstören wollen", zitiert der libanesische "Daily Star" zum Beispiel Hanin Nasser, eine der Teilnehmerinnen. Sie und ihre Freundinnen seien strikt gegen solche Tendenzen, sagte die junge Frau gegenüber der libanesischen Zeitung. Ihr Anliegen sei es, das "friedfertige Gesicht" der Kundgebungen zu wahren.

Libanon Demonstration & Proteste in Zouk Mosbeh
Selbstbewusst und streitlustig: Frauen spielen bei den Protesten im Libanon eine große RolleBild: Getty Images/AFP/J. Eid

Megaphon und Bauchtanz

Nicht selten übernehmen Frauen bei den Protesten eine Art Führungsrolle. Sie setzen sich teils an die Spitze der Demonstrationszüge und stimmen über Megaphone die Forderungen an. Diese reichen vom Kampf gegen Korruption bis hin zu Rücktritts-Forderungen an Ministerpräsident Saad Hariri und das gesamte politische Establishment.

Andere unterhalten die Demonstranten mit Bauchtanz-Einlagen  – eine Art des Engagements, das in den sozialen Medien der arabischen Welt nicht nur gefeiert wird. Gerade Salafisten und anderen streng konservativen Kräften in der arabischen Welt gefielen solche offenen lebensfrohen Protestformen von Frauen überhaupt nicht, bemerkt ein User in einem Tweet auf französisch.

Shorts und Kopftuch

Einige Demonstrantinnen tragen Kopftuch, viele jedoch nicht - nicht ungewöhnlich im multikonfessionellen Libanon, in dem neben Sunniten, Schiiten und Drusen auch viele Christen unterschiedlicher Konfession leben. Die im Vergleich zu vielen anderen arabischen Ländern eher legere Kleidung, die manche Demonstrantinnen tragen, führt mitunter zu heftigen Diskussionen - aber auch zu Solidaritätsbekundungen von Frauen aus anderen Ländern der Region. 

Im Libanon sei es glücklicherweise möglich, dass sich Frauen in Shorts ungehindert inmitten großer Männergruppen bewegen könnten, bemerkt die ägyptische Frauenrechtlerin Hind El-Kholy auf Facebook. "Wenn jemand wissen will, was Männlichkeit bedeutet, kann er es hier sehen: mehrere Frauen fühlen sich inmitten dieser Gruppen sicher. Kein einziger Mann versucht die Freiheit dieser Frauen einzuschränken oder sie selbst anzugreifen, weder körperlich noch verbal." 

Dies unterscheide die Lage der Frauen im Libanon grundlegend von der in Ägypten, meint El-Kholy. Tatsächlich sind Frauen in Ägypten immer wieder öffentlich belästigt, angegriffen und gedemütigt worden. Teilnehmerinnen der Proteste von 2011 wurden in Ägypten teils von Sicherheitskräften, teils aber auch von männlichen Mit-Demonstranten sexuell attackiert.

Allerdings müssen auch die Frauen im Libanon noch um viele Rechte kämpfen. Erst im Jahr 2017 wurde ein Gesetz abgeschafft, das einem Vergewaltiger Straffreiheit garantiert, wenn er sich entschließt, das Vergewaltigungsopfer zu heiraten. Und im Jahr 2018 starteten mehrere Frauenorganisationen die landesweite Kampagne "Schande über wen?". Darin forderten sie eine schärfere Strafverfolgung von Vergewaltigern und warben um Unterstützung der Öffentlichkeit für die Opfer. "Verurteile den Vergewaltiger, nicht das Opfer!", lautete das Motto der Bewegung.

Libanon Beirut Demonstrationen am internationalen Frauentag 2018
Lauthals für Frauenrechte: Demonstrantinnen in Beirut im März 2018Bild: picture-alliance/AP Images/B. Hussein

Spott und überhebliche Witze

Die Proteste der Frauen werden in weiten Teilen der arabischen Welt wahrgenommen und diskutiert - teils auch mit Ironie, Skepsis oder Spott, die Aussehen und Kleidung der Frauen in den Vordergrund stellen. "Ich habe mir die Demonstrationen im Libanon angeschaut, doch als meine Frau kam, habe ich schnell auf den Kanal umgeschaltet, der über den Krieg im Jemen berichtete“,  schrieb der bekannte ägyptische Unternehmer Naguib Sawiris auf Twitter mit Blick auf die Demonstrantinnen. Seinen Eintrag bezeichnete der ägyptische Geschäftsmann als "Witz des Tages" - andere sahen darin einen Ausdruck männlicher Überheblichkeit.

„Denken Sie an Ihr eigenes Land, als es dort Demonstrationen gab“, konterte etwa die libanesische Schauspielerin Nicole Saba. "Damals hat niemand einen solchen Witz gemacht. Es ist seltsam, dass Sie diese Art von Witzen mögen. Und es ist beschämend", so die Schauspielerin. Andere Userinnen auf Twitter pflichteten ihr bei: "Genug männlicher Chauvinismus, ignorante und beleidigende Witze", schrieb eine Frau, die sich Doja nennt. "Es ist falsch, populäre Proteste in einen Witz zu verwandeln. Noch schlimmer ist es, einen Witz gegen Frauen zu machen", merkte eine weitere Userin an.

Unmut richtete sich auch gegen einen Artikel der saudischen Zeitung "Okaz". Sie hatte einer Reportage über die Demonstrantinnen im Libanon den eher eigenwilligen Titel gegeben: „Libanesische Schönheiten: Alle diese wunderbaren Frauen sind Revolutionärinnen".

Der Artikel bestand dann zu großen Teilen lediglich aus Fotos ausgesuchter Demonstrantinnen, die das Blatt als "attraktiv" und "nicht nur wunderbar, sondern auch revolutionär" beschrieb. Auch dieser Beitrag weckte seitens der libanesischen Demonstrantinnen erheblichen Unmut und wurde als sexistisch empfunden. "Das ist ein armseliger Journalismus, der die Sprache von Perversen benutzt", kommentierte eine Nutzerin auf Twitter. "Diese Bilder sind provokant und sollten in einer angesehenen Tageszeitung nicht erscheinen."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika