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Streikfieber

19. März 2009

Generalstreik und Massenprotest - zum zweiten Mal in diesem Jahr sieht sich Präsident Sarkozy mit beidem konfrontiert. Nicht immer blieb es allerdings bei friedlichen Protesten.

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Demonstrationszug in Marseille mit zehntausenden Beteiligten (Foto: AP)
Nach knapp zwei Monaten prägen wieder Plakate und Demonstranten die Straßen französischer StädteBild: AP

Bei strahlendem Sonnenschein gingen am Donnerstag (19.03.2009) hunderttausende Menschen in mehreren Städten des Landes auf die Straßen. Sie machten lautstark ihrem Unmut über den Umgang von Präsident Nicolas Sarkozy mit der weltweiten Wirtschaftskrise Luft. So fanden in Marseille, Lyon, Grenoble, Rouen, Le Havre ebenso Proteste statt wie in der Hauptstadt Paris. Dort hatten sich ab Mittag mehrere hunderttausend Menschen zu einer Großkundgebung versammelt. Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich insgesamt drei Millionen Menschen an den Protesten, die Polizei sprach von 1,2 Millionen Demonstranten.

Demonstranten in Marseille, vorne ein Mann mit roter Clownnase, der ein Plakat hochhält "SOS - Social en Detresse" (Foto: AP)
Die Demonstranten wie hier in Marseille geben einen Notruf heraus: "SOS für das Sozialwesen"Bild: AP

Lähmender Generalstreik

Die acht größten Gewerkschaften hatten zu dem eintägigen Protesttag aufgerufen, der von einem Generalstreik begleitet wurde. Rund die Hälfte der Züge fuhr nicht. Die Türen zahlreicher Schulen, Kindergärten und Behörden blieben geschlossen. In Krankenhäusern gab es nur eine Notversorgung. Den Streiks der öffentlich Bediensteten schlossen sich auch die Beschäftigen vieler Privatunternehmen der Auto-, Elektro- und Energiewirtschaft an.

Protestierende Mitarbeiter des Reifenherstellers Continental, hinter ihnen ein Pappsarg mit einem weißen Kreuz, darüber der Conti-Schriftzug (Foto: AP)
Beschäftigte des deutschen Reifenherstellers protestieren vor dem Werk in Clairoix gegen StellenabbauBild: AP

Hauptstoßrichtung: Durchsetzung der Forderungen, die von einer Anhebung des Mindestlohns bis zur Rücknahme geplanter Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst und in Industriebetrieben reichen. So nutzten in Clairoix im Norden des Landes etwa 10.000 Beschäftigte den Tag, um gegen die Schließung des Reifenwerks, das dem deutschen Produzenten Continental gehört, zu protestieren. Mehr als 1120 Menschen verlieren dort ihre Arbeit.

Erwartet wird, dass in diesem Jahr rund 350.000 Franzosen arbeitslos werden. Zuletzt hatte am Mittwoch der Automobil-Zulieferer Rencast Insolvenz angemeldet. Der Reifenhersteller Goodyear kündigte an, bis zu 1000 Mitarbeiter zu entlassen.

Sarkozy mit leeren Taschen

Präsident Sarkozy, der nach den Protesten Ende Januar ein Sozialmaßnahmenpaket in Höhe von 2,6 Milliarden Euro aufgelegt hatte, verkündete dieses Mal: "Es gibt nichts mehr." Angesichts leerer Staatskassen könne kein weiteres Geld für die von der Wirtschaftskrise Betroffenen ausgegeben werden. Ziel der Regierung müsse es sein, Arbeitsplätze und Industrie zu schützen. Mit insgesamt 26 Milliarden Euro will seine konservative Regierung die Konjunktur wieder ankurbeln.

Haushaltsminister Eric Woerth betonte, die bisher beschlossenen Sonderausgaben für die sozial Schwachen kosteten im laufenden Jahr bereits zehn Milliarden Euro. Auch Premierminister François Fillon lehnte weitere Maßnahmen zur Konjunkturankurbelung mit Hinweis auf das ausufernde Staatsdefizit ab. Er verzichtete wegen des Streiks auf seine Teilnahme an der Eröffnung des EU-Gipfels in Brüssel.

Sarkozy (rechts) schüttelt dem britischen Premier Brown die Hand (Foto: DPA)
Ungeachtet der Proteste empfing Präsident Sarkozy den britischen Premierminister Brown im Elysée-Palast in ParisBild: picture alliance / abaca

Drohende Radikalisierung?

Die Gewerkschaften des Landes gaben sich unbeeindruckt. Der Chef der mächtigen CGT, Bernard Thibaut, sagte, die Regierung müsse neue Verhandlungen akzeptieren. Jean-Claude Mailly von der Force Ouvrière spricht von einem "tief verwurzelten Sinn für soziale Ungerechtigkeit" der Demonstranten, den weder Regierung noch Arbeitgeber berücksichtigt hätten. Regierung und Sozialforscher befürchten nun, dass die Proteste gewalttätiger werden könnten.

Entsprechende vereinzelte Aktionen gab es bereits. So nahmen bei Sony France aufgebrachte Arbeiter den Chef über Nacht als "Geisel". Manager des Reifenproduzenten Continental wurden symbolisch "gehenkt" und Hafen-Manager in Marseille tätlich angegriffen.

Festnahmen nach Ausschreitungen

Nach Abschluss der Großkundgebungen kam es in Paris zu Ausschreitungen. 300 Teilnehmer wurden nach Polizeiangaben in Gewahrsam genommen, gegen rund 50 von ihnen wurden juristische Verfahren eingeleitet. Mehrere Polizisten erlitten bei den Krawallen Verletzungen. Randalierer hätten Mülltonnen angezündet und Polizisten mit Wurfgeschossen angegriffen, hieß es in den Medien. Die Zusammenstöße ereigneten sich den Angaben zufolge im Zentrum der französischen Hauptstadt.

Solidaritätsbekundung vom DGB

Unterstützung finden die Gewerkschaften bei der sozialistischen Opposition; aber auch vereinzelt bei Sarkozys eigener Partei, der UMP. Die frühere sozialistische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal sagte: "Der Protest ist legitim und nützlich. Vielleicht wird die Regierung danach endlich auf die Sorgen der Menschen antworten." Der ehemalige Premierminister Alain Juppé, von der UMP, erklärte, der Streik sei Ausdruck "einer wirklichen Angst in der Bevölkerung, die wahrgenommen und berücksichtigt weden muss". Nach Umfragen sind knapp 80 Prozent der Franzosen auf der Seite der Demonstranten.

Auch aus Deutschland kamen Solidaritätsbekundungen. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Michael Sommer, schrieb seinen französischen Kollegen, es seien jetzt starke Impulse für Wachstum und Beschäftigung, Bildung, Umwelt und sozialen Ausgleich nötig. Die Gewerkschaften würden nicht zulassen, dass die Beschäftigten in Europa den Preis für eine Krise zahlten, die andere durch verantwortungloses Handeln verursacht hätten. (bea/mas/fw/dpa/rtr/AFP/AP)