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Fröhliche Weihnacht' überall?

Elena Sohn30. November 2006

Beim Lesen des folgenden Textes könnte möglicherweise der Eindruck entstehen, die Verfasserin sei eine kleine Schnapsdrossel. Nur um dem vorweg zu greifen: Sie haben es mit einer reinen Genusstrinkerin zu tun.

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Spätestens seit Thanksgiving in der vergangenen Woche ist es soweit: Die amerikanischen Radiostationen dudeln Weihnachtssongs hoch und runter. Die großen Kaufhäuser auf der New Yorker Fifth Avenue übertreffen einander in phantasievollsten Dekorationen, von blitzenden und blinkenden Privathäusern ganz zu schweigen. Hier und da sitzt in einer Shopping Mall ein Santa Claus als Fotomotiv in seinem Schlitten rum, neben sich Rudolph, das rotnasige Rentier. Die Vorweihnachtszeit hat begonnen!

Allein, eine richtige Weihnachtsstimmung mag sich unter vielen Deutschen nicht so recht einstellen. Manch einer mag es auf die milden Temperaturen schieben. Doch auch da, wo es schon knackig kalt ist - ja, wo bereits Schnee liegt! -, muss man sich eingestehen: Irgendetwas fehlt. Doch was könnte das sein? Ich möchte behaupten: Es ist der Glühwein.

Beigeschmack des Verbotenen

In Amerika ist es schier undenkbar, dass Alkohol auf offener Straße ausgeschenkt wird. Auch 70 Jahre nach der Prohibition hat das puritanisch geprägte Land zu allen prozenthaltigen Getränken ein überaus zwiespältiges Verhältnis. Es käme zwar niemand - oder fast niemand - mehr auf die Idee, den Alkoholkonsum generell untersagen zu wollen. Was jedoch bis heute nicht verschwinden mag, ist sein unangenehm bitterer Beigeschmack des Verbotenen.

Kaum verwunderlich, blickt man auf ein amerikanisches Schulbuch des frühen 20. Jahrhunderts zurück: "Alkohol ist Gift", heißt es dort, und "es liegt in seiner Natur, und zwar bereits in kleinen Mengen, dem zu schaden, der ihn zu sich nimmt. Er ruiniert den Charakter wie auch die Gesundheit. Und wenn man nur genug von ihm zu sich nimmt, ist er tödlich." Mary Hunt und ihre Kolleginnen von der "Women's Christian Temperance Union", die noch heute als eine der einflussreichsten Lobbygruppen aller Zeiten gelten, verstanden es, ihren Schäfchen den nötigen Respekt einzuflößen. Und mit welch nachhaltigen Folgen!

Piemont-Kirsch als "haute cuisine"

Zunächst einmal ist zu befürchten, dass ein Großteil der amerikanischen Studenten nur die Hälfte seines Studiums mitbekommt. Denn wenn in den meisten Bundesstaaten mit 21 Jahren plötzlich die magische Altersgrenze zum Alkoholerwerb überschritten ist, heißt es üben, üben, üben - will man von erfahreneren ausländischen Kommilitonen nicht müde belächelt werden. In der Praxis bedeutet das: Beinah alle Unis verfügen über bestimmte Trinkrituale, zur besseren Orientierung quasi.

Dann wäre da das Problem mit der Schokolade. Die Amerikaner sind dem Süßen ja sehr zugetan. Umso trauriger ist es, dass einige nach einem Europa-Besuch die kleinen eckigen Häppchen mit der Piemont-Kirsche in der Mitte für "haute cuisine", ja, für feinste Pralinés halten! Es sei ihnen verziehen - in den Supermarktregalen ihres Landes gibt es keine likörgefüllten Leckereien.

Kein Glühwein - keine Weihnachtsstimmung

Tragisch und auch noch passend zur Winterzeit: Um sich den Begriff "Après Ski" erklären zu können, muss der abfahrtsbegeisterte Amerikaner sein Land verlassen. Ein Absacker auf der Hütten und dann mit beschwingten Knien den Hang herunter - das bleibt ihm in den hiesigen Skigebieten verwehrt.

Das eigentlich Traurige aber, und damit kommen wir zurück zum Ausgangspunkt der ganzen Überlegung: Wo kein Glühwein, da auch kein Weihnachtsmarkt. Und wo kein Weihnachtsmarkt, da auch kein draußen Stehen, sich mit Freunden über Geschenke beraten und die ganze stimmungsvolle Deko auf sich einwirken lassen. Denn wer mag schon ohne wohlig-warmes Gefühl im Bauch in der Kälte verharren? Kein Glühwein, kein Weihnachtsmarkt. Und keine Weihnachtsstimmung.