1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Nicht nur Domäne von paranoiden Spinnern"

Torsten Landsberg
24. Juni 2019

Das Kloster Dalheim zeigt eine Ausstellung über die Geschichte der Verschwörungstheorie. Man müsse sie ernst nehmen, sagt Buchautor Michael Butter im DW-Gespräch - als Hinweis auf reale gesellschaftliche Probleme.

https://p.dw.com/p/3KgLJ
50 Jahre Mondlandung | Astronaut Edwin Aldrin läuft auf der Mondoberfläche
Bild: NASA

Die Kondensstreifen von Passagierflugzeugen sollen in Wirklichkeit chemische Stoffe sein, die uns ruhigstellen, die CIA soll hinter 9/11 stecken und Angela Merkel eine Tochter von Adolf Hitler sein - außerdem hätten Juden, Freimaurer und Illuminaten die Finger im Spiel um die Weltherrschaft: Verschwörungstheorien verbreiten sich schnell und halten sich hartnäckig. Der Wissenschaftler Michael Butter erklärt im DW-Gespräch, warum Verschwörungstheorien einen starken Zulauf haben und es schwierig ist, deren Anhänger von Fakten zu überzeugen.

DW: Herr Butter, Verschwörungstheorien sind breit gefächert: Sie können amüsant, weil harmlos sein, wie bei Elvis, der auf einer einsamen Insel leben soll, oder lächerlich, wenn es heißt, Angela Merkel sei ein Alien. Ab wann wird eine Verschwörungstheorie problematisch?

Michael Butter: Auch eine auf den ersten Blick harmlose Verschwörungstheorie kann problematisch werden, etwa wenn jemand glaubt, dass Angela Merkel ein Alien ist und meint, etwas dagegen unternehmen zu müssen. Generell sind sie nicht harmlos, wenn sie sich gegen Schwächere oder Minderheiten richten, also etwa Geflüchtete oder historisch gegen die Juden. Gleichzeitig können Verschwörungstheorien natürlich auch gefährlich sein für unser demokratisches Zusammenleben.

Weil das Misstrauen gegenüber der Politik überhand nimmt?

Wenn jemand davon ausgeht, dass unsere Politiker alle unter einer Decke stecken und es überhaupt keinen Unterschied macht, ob man die CDU oder die SPD oder die Grünen oder die Linken wählt, weil die eh alle Marionetten einer Verschwörung sind, dann zieht man sich entweder aus dem politischen Betrieb zurück und partizipiert überhaupt nicht mehr - das wäre dann die berühmte Politikverdrossenheit. Oder man stimmt eben für diejenigen, die sich als wahre Alternative zu diesen Altparteien darstellen, das sind in den letzten Jahren quer durch die westliche Welt und darüber hinaus die meist rechtspopulistischen Parteien, die dann aber eben zur Lösung der Probleme auch nicht wirklich beitragen.

Michael Butter - Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen
Leitet ein EU-Projekt zur Analyse der Verschwörungstheorie: Michael ButterBild: Privat

Am Beispiel der Schere zwischen Arm und Reich können auch aufgeklärte Menschen den Eindruck gewinnen, dass in unserem politischen System etwas schief läuft. Verleiht so ein Gefühl der Verschwörungstheorie Auftrieb?

Ganz bestimmt. Verschwörungstheorien sind ja nicht nur die Domäne von paranoiden Spinnern, die es sicher auch gibt. Aber es gibt eben auch sehr viele rationale Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, weil sie nach Erklärungen suchen für durchaus reale Probleme. In den allermeisten Fällen muss man sie ernst nehmen, weil sie ein Symptom sind und uns auf Dinge hinweisen, die die Menschen umtreiben. Verschwörungstheorien zur neuen Weltordnung sind natürlich Antworten auf Probleme, die mit dem Thema Globalisierung verbunden sind und wahrgenommen werden. Und es ist völlig klar, dass die Große Koalition in den letzten Jahren völlig unfreiwillig dazu beigetragen hat, dass der Nährboden für Verschwörungstheorien größer geworden ist.

Durch die Politik der Mitte?

Ja, durch die große inhaltliche und ideologische Annäherung von CDU und SPD, die nach rechts und nach links gewandert sind und sich in der Mitte getroffen haben. Das kann den Eindruck verstärken: Na ja, die stecken ja eh alle unter einer Decke. Denken Sie an die Koalitionsverhandlungen nach der letzten Bundestagswahl, da heißt es erst, die SPD will keine Große Koalition mehr, dann verhandeln die anderen und scheitern. Am Ende haben wir doch wieder eine Große Koalition. Das kann natürlich bei Menschen, die eh schon die Tendenz haben, in diese Richtung zu denken, den Glauben verstärken, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, wen man wählt.

Die Verschwörungstheorie hat heute ein schlechtes Image. Das war historisch anders, früher galten entsprechende Theorien als Elitenwissen. Lag das daran, dass der Informationsfluss damals noch nicht so verbreitet war?

Nein, es lag eher daran, dass man wirklich fest überzeugt davon war, sowohl im Mainstream als auch im Eliten- und wissenschaftlichen Diskurs, dass die Welt einfach so funktioniert. Diese Verschwörungstheorie ist in der Gegenwart vor allem disqualifiziert worden durch Einsichten der Psychologie und der modernen Sozialwissenschaften, die sagen, soziale Systeme entwickeln eigene Logiken. Wir können erklären, warum Menschen handeln, als ob sie sich abgesprochen hätten, ohne das getan zu haben. Diese Konzepte gab es im 17., 18. und 19. Jahrhundert noch nicht, sie bildeten sich erst Ende des 19. Jahrhunderts heraus.

Philippinen Elvis-Contest in Makita - Bongo Jaim Lim
Der King lebt: Eine der harmloseren Verschwörungstheorien besagt, dass Rock'n'Roll-König Elvis Presley sein Leben unter Palmen genießt. Das hier ist ein Double auf den Philippinen - oder doch nicht?Bild: picture-alliance/AP Photo/B. Marquez

Ausgerechnet während der Aufklärung war die Verschwörungstheorie besonders beliebt?

Gerade in der Zeit der Aufklärung suchte man nach nichtreligiösen Welterklärungsmustern. Die Logik der Aufklärung sagt, Ursache und Wirkung müssen miteinander zusammenhängen, und so kommt man dann bei einem Weltbild raus, das den Glauben an Verschwörungstheorien ganz stark bedingt, selbst bei den gebildeten und am besten informierten Menschen dieses Zeitalters.

Wodurch hat die Verschwörungstheorie ihre Bedeutung damals eingebüßt?

Das ist ein Prozess, den wir für die westliche Welt konstatieren können. Er ist auch beschränkt auf die westliche Welt, in der arabischen Welt zum Beispiel oder in großen Teilen Osteuropas hat er nicht stattgefunden, das sieht man daran, wie zum Beispiel in Russland oder der Türkei oder in Saudi-Arabien von Politikern und Medien mit Verschwörungstheorien umgegangen wird. Für die USA gibt es mittlerweile eine ganz spannende Studie, die zeigt, dass es wirklich um ein Einsickern von soziologischem Wissen in das Alltagswissen der Amerikaner ging. Es sind, verknappt gesagt, zwei Säulen: die Tradition der Soziologie von Menschen wie Karl Popper, die sagen, Verschwörungstheorien sind schlechte Soziologie, weil sie schlecht erklären, wie Gesellschaften funktionieren und alles auf Absichten zurückführen, dabei aber nicht berücksichtigen, dass Dinge auch einfach passieren, ohne dass es jemand beabsichtigt hat.

Und die andere Säule?

Das ist die Sozialpsychologie: Jüdische Wissenschaftler wie Adorno oder Leo Löwenthal sind aus Deutschland in die USA ins Exil gegangen, sie haben gesehen, was für fürchterliche Auswirkungen Verschwörungstheorien hatten, dass sie nämlich bis zum Holocaust führten, hinter dem letztendlich die Idee von der jüdischen Weltverschwörung steckte.

Plakatwand mit George Soros und Jean-Claude Juncker in Ungarn.
Ungarns Regierungschef Orbán hat den jüdischen US-Milliardär George Soros (links) zum Staatsfeind erklärt, dessen Open Society Foundation für Meinungsfreiheit eintritt. Er und die EU sollen hinter einer Verschwörung stecken.Bild: picture-alliance/ANE

Wir verfügen heute über einen enormen Zugang zu Informationen, wenn wir bereit sind, unsere Filterblasen zu verlassen. Obwohl jeder über das Internet an Informationen gelangt, scheint dieser Zugang die Verbreitung der Verschwörungstheorie eher anzuheizen als sie einzudämmen. Was macht denn Anhänger von Verschwörungstheorien so resistent gegenüber Fakten?

Studien aus den USA zeigen, dass überzeugte Verschwörungstheoretiker noch mehr an ihre Verschwörungstheorien glauben, nachdem man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert hat. Verschwörungstheorien sind extrem wichtig für die Identität derjenigen, die an sie glauben. Sie machen ein Erklärungsangebot, wie die Welt funktioniert. Und da geht alles auf, da gibt es keinen Zufall, ein Rädchen greift ins andere. Der Glaube und das Verbreiten von Verschwörungstheorien führt dazu, dass man sich aus der Masse herausheben kann, Verschwörungstheoretiker nehmen für sich in Anspruch: „Wir haben verstanden, wie die Welt wirklich funktioniert. Wir sind aufgewacht, wir haben die Augen geöffnet, während die anderen schlafend durch die Welt gehen." Und insofern hängt deren Identität massiv an dem Glauben an Verschwörungstheorien.

Verschwörungstheorien werden auch als Mittel der Desinformation eingesetzt, also nicht von Leuten, die selbst daran glauben und informieren wollen, sondern solchen, die bewusst beeinflussen wollen.

Ganz klar gibt es auch welche, die das ganz zynisch strategisch einsetzen, um gewisse Ziele zu erreichen. Im Einzelfall ist es ganz schwer zu entscheiden: Glaubt er das, glaubt er das nicht? Buzzfeed hat die Rolle von George Soros für diese Verschwörungstheorien in Ungarn, insbesondere von Viktor Orbán, gut beschrieben. Da ist sehr genau nachgezeichnet worden, wie zwei Berater von Orbán, ironischerweise sogar zwei jüdische Berater, diese Soros-Verschwörungstheorie erfunden haben, ohne dass es jemand geglaubt hat - auch Orbán nicht. Von Kollegen aus unserem internationalen Netzwerk, die über Informanten recht nah dran sind an der ungarischen Regierung, weiß ich, dass Orbán inzwischen wohl selbst glaubt, dass George Soros an der Spitze dieser großen Weltverschwörung steht.

Aus der Desinformation wird Überzeugung?

Wir neigen psychologisch dazu, die Dinge, die uns nutzen, auch zu glauben. Diese kognitive Dissonanz, die man hat, wenn man quasi immer lügt, ist eine psychische Belastung, und man kommt damit leichter klar, wenn man sich einredet: Es stimmt halt wirklich.

Selbst Entwicklungen, die von den meisten Menschen wohl als Errungenschaften und selbstverständlich empfunden werden, wie die Gleichstellung der Geschlechter, werden für Verschwörungstheorien herangezogen. Ist deren Anhängern die Realität zu liberal?

Verschwörungstheorien haben ganz oft einen starken konservativen Impetus in dem Sinne, dass sie eine bedrohte Ordnung bewahren oder eine Ordnung, die von den angeblichen Verschwörern abgeschafft wurde, zurückbringen sollen. Das ist auch eine Parallele zum Populismus: "Make America Great Again". Verschwörungstheoretiker wie Populisten treibt eine Nostalgie für die Vergangenheit um. Nehmen wir die Angst von weißen Männern in den USA, die sehen, dass ihre gesellschaftliche Position immer weiter unterminiert wird. Sie standen, selbst wenn sie arm waren, lange Zeit über allen, die nicht weiß waren - und sie standen über den Frauen. Und jetzt wird ihnen selbst das streitig gemacht. Das ist eine Abwehrreaktion gegen einen gesellschaftlichen Wandel, den man nicht akzeptieren möchte und den man als Verschwörung gut weg erklären kann, denn dann ist es ja völlig legitim, dagegen vorzugehen, weil man sich einem Komplott widersetzt.

Lässt sich die Welt nur erklären, wenn man sie vereinfacht und jemandem für vermeintliche Fehlentwicklungen die Schuld geben kann?

Für manche Menschen ist es leichter zu akzeptieren, dass irgendwelche Bösewichte im Hintergrund die Strippen ziehen, als zu akzeptieren, dass es niemanden gibt, der im Hintergrund die Strippen zieht. Verschwörungstheorien vereinfachen oft, indem sie das politische Feld reduzieren auf die Verschwörer und die anderen. Gleichzeitig müssen sie dann ganz komplizierte Operationen unternehmen, um zu zeigen, warum X und Y unter einer Decke stecken und das alles Teil eines großen Planes ist.

Michael Butter ist Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er forscht zu Verschwörungstheorien, leitet ein EU-Forschungsprojekt zu deren Analyse und ist Autor des Buches "Nichts ist, wie es scheint: Über Verschwörungstheorien".

Das Gespräch führte Torsten Landsberg.