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Politik

Flüchtlingslage auf Chios unerträglich

Marianna Karakoulaki | Dimitris Tosidis
2. Juli 2017

Tausende Migranten hängen auf der griechischen Insel Chios fest. Sie dürfen nicht aufs Festland, aber freiwillig zurück in die Türkei wollen sie auch nicht. Marianna Karakoulaki und Dimitris Tosidis berichten aus Chios.

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Griechenland - Die Flüchtlingslage auf Chios
Bild: DW/D. Tosidis

Auf den ersten Blick wirkt Souda auf der Insel Chios wie ein Urlaubsparadies, wie man es in Katalogen anpreisen könnte. Der Strand ist voller Menschen, die lachen, schwimmen und angeln. Doch dieser Eindruck täuscht. Souda ist zu einem riesigen Flüchtlingslager mit Tausenden von Menschen geworden.

Das Lager liegt um die venezianischen Mauern, ein Wohngebiet und einen Strand herum und platzt aus allen Nähten. Deshalb haben die Bewohner auch eigene kleine Zelte am Strand aufgeschlagen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Souda eines der schlimmsten Flüchtlingslager in ganz Griechenland ist. Die Insel Chios, nur sieben Kilometer vor der türkischen Küste, die einmal Flüchtlinge willkommen hieß, ist heute ein Internierungslager mit fast 4.000 Menschen, die hier wie in einem Freiluftgefängnis festsitzen. Die Lebensbedingungen sind katastrophal und verschlechtern sich jeden Tag weiter. Hilfe von den örtlichen Behörden oder der griechischen Regierung gibt es so gut wie keine. Unsere Interviewanfragen an das griechische Migrationsministerium und die Inselbehörden blieben unbeantwortet.

Griechenland - Die Flüchtlingslage auf Chios
Das "offizielle" Lager, eingeklemmt zwischen der alten Stadtmauer und einem WohngebietBild: DW/D. Tosidis

Zehn Personen im Container oder ein Zelt neben den Abwässern

In einem der Zelte am Strand, wo Abwässer ins Meer fließen, treffen wir Wallid und Farah, ein Ehepaar aus Damaskus, das in einem dichtbesetzten Boot nach Chios kam. Die 20-jährige Farah ist hochschwanger. Der 31-jährige Wallid hat früher als Reiseführer zypriotische Touristen durch Damaskus begleitet, er spricht fließend Griechisch. Früher lebten sie im Flüchtlingslager Vial, das von der griechischen Regierung und der Armee betrieben wird.

"Wir sind von dort weggegangen, weil die Lebensbedingungen einfach furchtbar waren und weil Farah wegen einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus war", sagt Wallid. Zusammen mit acht anderen Menschen lebten sie in einem Container. Die einzige Alternative war, ein Zelt neben den Abwässern aufzustellen.* Ratten und Schlangen sind hier tägliche Bekannte. "Trotz der Schwierigkeiten, die das Land hat, haben wir nichts dagegen, in Griechenland zu leben", sagt Wallid. "Ich spreche die Sprache, das ist also kein Problem. Ich will nur nicht auf Chios bleiben."

Griechenland - Die Flüchtlingslage auf Chios
Wallid und Farah erwarten Anfang Juli ihr erstes KindBild: DW/D. Tosidis

Ende Juli will die griechische Regierung die Koordinierungsarbeit der Flüchtlingskrise und die Zuteilung der europäischen Finanzhilfe ganz übernehmen. Das bedeutet, dass dann mehrere nicht-staatliche Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit auf der Insel einstellen werden. Tausende von Menschen stehen dann im Grunde genommen ohne Unterstützung und Hilfsangebote da. "Die Situation auf der Insel ist zweifellos kritisch", sagt Arianne Migne vom norwegischen Flüchtlingsrat auf Chios im Gespräch mit der DW. "Aber letztlich wissen wir nicht, was passieren wird, wenn die Regierung das übernimmt."  

Drogen, Diebstahl, Gewalt

Gewalt und Schlägereien zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen sind ebenso an der Tagesordnung wie Drogenhandel. Für 15 Euro kann man Marijuana kaufen. Jeder redet darüber, aber es versucht niemand, eine Lösung zu finden, abgesehen davon, dass die Polizei manchmal Leute festnimmt, die innerhalb des Lagers Drogen verkaufen.

Griechenland - Die Flüchtlingslage auf Chios
Der erste Eindruck täuscht - Souda ist kein UrlaubsparadiesBild: DW/D. Tosidis

"Man muss mehr als eine Woche in Souda gelebt haben, um zu verstehen, wie schlimm die Lage ist", sagt der 30-jährige Fathi aus Algerien. Fathi und einer seiner Freunde hatten nicht das Geld, um einen Schmuggler zu bezahlen. Also schwammen sie von der türkischen Küste los in Richtung Chios, bis sie kurz vor der Insel von der griechischen Küstenwache aufgefischt wurden. Fathis Freund gelang es später, die Insel heimlich zu verlassen, indem er sich unter einem Lastwagen versteckte. Fathi hat es dreimal versucht, es aber nie geschafft. Der einzige Weg weg von der Insel für Fathi und viele andere besteht darin, dass sie ihr Leben riskieren, indem sie sich in oder unter einem LKW verstecken. Wenn sie es nach Athen schaffen, beginnt für sie eine neue Reise. Auf dem Festland können sie kein Asyl beantragen. Deshalb bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten: zurück auf die Inseln oder das Land ganz zu verlassen. 

Abschreckende Asylverfahren

Alle, mit denen wir sprachen, haben gesagt, das Asylverfahren dauere zu lange und ende meist negativ. Vor allem für Syrer scheint es ein Extraverfahren zu geben. Der 20 Jahre alte Ibrahim** kommt aus Damaskus. Er wirft den Asylbeamten und vor allem denjenigen, die für das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) arbeiten, vor, dass sie nur seine Zeit in der Türkei berücksichtigen. Doch im Nachbarland hat er nur zwei Wochen verbracht, als er auf ein Boot wartete, das ihn nach Griechenland brachte. Er ist nicht der einzige. Alle Syrer, die mit uns sprachen, erzählten die gleiche Geschichte. Sie sprachen auch von Einschüchterung durch die Asylbeamten.

Griechenland - Die Flüchtlingslage auf Chios
Das eigentliche Lager in der Stadt ist zu klein, Menschen weichen auf den Strand ausBild: DW/D. Tosidis

"Sie haben mir gesagt, wenn ich Asyl beantragen wolle, müsse ich Jahre auf Chios verbringen. Das kann ich nicht, also habe ich das Papier unterschrieben, das sie mir vorgelegt haben", sagt Ahmed**, ebenfalls aus Syrien. Das Papier stellte sich als eine Verzichtserklärung heraus, in dem er seinen Asylantrag in Griechenland widerruft. Doch obwohl er unterschrieben hat, schien er sich des Inhalts der Erklärung nicht bewusst gewesen zu sein. In einem anderen Fall wurde dem einen Zwillingsbruder Asyl gewährt, während der andere in die Türkei abgeschoben wurde, obwohl beide die gleiche Geschichte erzählten. 

Einem Aktivisten zufolge, der mehrfach über die Lage auf Chios berichtet hat, kommt es auch immer wieder vor, dass Menschen verschwinden. Niemand werde informiert, wohin diese Personen gebracht würden, ob sie sich in Polizeigewahrsam befänden, ob sie in Internierungseinrichtungen auf dem Festland gebracht oder in die Türkei zurückgeschickt worden seien. Während jeden Tag neue Migranten auf den Ägäisinseln wie Chios ankommen und der politische Wille auf lokaler und nationaler Ebene fehlt, die Situation zu verbessern, wird die Lage auf Chios immer schlimmer.

*Wenige Tage nach unserem Gespräch mit Wallid und Farah bekamen beide eine Unterkunft.

**Namen von der Redaktion geändert.