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Flechten: "Mikrokosmos zum Staunen"

Brigitte Osterath
14. Dezember 2016

Einfach faszinierend! Flechten sind Mischlebewesen aus Algen und Pilzen. Biologe Frank Bungartz erzählt, warum er sein Forscherleben den Flechten gewidmet hat. Und warum sie viel zu schade zum Wegscheuern sind.

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Landkartenflechte Rhizocarpon geographicum
Bild: Dorothee Killmann/Uni Koblenz

DW: Herr Bungartz, Sie haben neun Jahre an der Charles-Darwin-Forschungsstation auf den Galápagos-Inseln geforscht - an Flechten. Was fasziniert Sie so daran?

Frank Bungartz: Für mich war das, als ich damit begonnen hab, eine ganz neue Welt, die sich mir eröffnet hat. Als ich mir die Organismen unter der Lupe angesehen habe, hab' ich Strukturen gesehen, die fantastischer sind als so manches Kunstwerk. Aber Flechten sind auch sehr interessant, was die Biologie angeht.

Inwiefern?

Frank Bungartz beim Flechtensammeln (Frauke Ziemmeck/Charles Darwin Foundation)
Frank Bungartz beim Sammeln von Flechten auf GalápagosBild: Frauke Ziemmeck/Charles Darwin Foundation

Wir alle sind keine Individuen, wie wir uns das vorgaukeln. Wir sind auf eine Symbiose mit anderen Arten angewiesen: Ohne unsere Darmflora etwa könnten wir nicht überleben. Flechten sind dafür das Paradebeispiel par excellence. Sie sind zusammengesetzt aus mindestens zwei verschiedenen Lebewesen: aus Pilzen und Algen. Der Pilz hält sich Algenzellen, die Photosynthese betreiben und Zucker herstellen, von denen sich auch der Pilz ernährt. Damit sind Flechten in der Lage, so zu tun, als ob sie Pflanzen wären - obwohl sie keine Pflanzen sind. Die Biologie dahinter ist unglaublich faszinierend.

Und was hat die Alge von dieser Lebensgemeinschaft?

Der Pilz lagert sie in sein Pilzgeflecht ein und baut quasi das Haus für die Alge. Gemeinsam können sie Standorte besiedeln, wo Pilz oder Alge alleine nicht überlebensfähig wären - auch in der Antarktis, der Namib-Wüste in Afrika und der Atacama-Wüste in Südamerika.

Wieso können ausgerechnet Flechten dort gedeihen?

Flechten sind in der Lage, auch ohne Wasser zu überleben. Sie können vollständig austrocknen, sind dann inaktiv, aber nicht tot. Wenn wieder genügend Feuchtigkeit vorhanden ist, fängt die Flechte an, wieder zu leben und Photosynthese zu betreiben. Das ist quasi so eine Auferstehung von den Toten, die sich regelmäßig wiederholt.

Die Namib-Wüste in Afrika etwa gehört zu den trockensten Standorten überhaupt, aber es streichen immer wieder Nebelbänke vorüber. Die Feuchtigkeit in den Nebelbänken reicht Flechten aus. Daher sind gerade Nebelwüsten sehr flechtenreich.

Aber nun ist Galapagós keine Wüste. Gibt es da nicht viele andere Lebewesen, die viel faszinierender sind als ausgerechnet Flechten?

Die Riesenschildkröten sind natürlich die touristische Attraktion auf Galápagos. Kein Tourist reist nach Galápagos, um sich dort Flechten anzusehen. Aber wenn man sich den Artenreichtum auf Galápagos ansieht, verschiebt sich das Gleichgewicht. Wirbeltiere sind dann nur eine sehr kleine Gruppe, Flechten hingegen sind extrem artenreich.

Ecuador Schildkröte mit Flechten bewachsen
Flechten wachsen sogar auf dem Panzer von Riesenschildkröten auf GalápagosBild: Charles Darwin Foundation/F. Bungartz

Als ich im Jahr 2005 angefangen habe, auf Galápagos zu arbeiten, kannte man nur etwa 200 Flechtenarten. Inzwischen sind über 600 Arten nachgewiesen. Meine Kollegen und ich haben bereits 50 Arten neu beschrieben. Wir wissen aber, dass sogar bis zu 1000 Arten vorkommen und arbeiten gerade an der Beschreibung vieler weiterer Arten. Und wir schätzen: Etwa ein Fünftel aller Flechtenarten auf Galápagos sind endemisch, kommen also nur dort vor.

Ist das so ungewöhnlich? Man weiß doch, dass viele Lebewesen auf Galápagos nur dort vorkommen, weil die Inseln so weit vom südamerikanischen Kontinent entfernt sind.

Ja, aber man hat lange geglaubt, dass das bei Flechten nicht der Fall ist. Flechten verbreiten sich durch mikroskopisch kleine Sporen oder Flechtenbruchstücke. Man hatte daher angenommen, die kommen überall vor, wo die Lebensbedingungen gerade günstig sind. Aber das ist eben nicht der Fall.

Wie sind Sie überhaupt auf das Forschungsthema Flechten gekommen?

Flechtenforscher Frank Bungartz mit seiner Tochter
Frank Bungartz mit seiner TochterBild: Robert Lücking/Botanisches Museum Berlin-Dahlem

Ich hab damals in Norwich in England studiert und bin viel mit dem Fahrrad rumgefahren. Dabei ist mir aufgefallen: Viele von diesen kleinen Kirchen haben Friedhöfe, auf denen die Grabsteine voller Flechten sind. Und da hatte ich die Idee für meine Abschlussarbeit: Ich habe die Flechtengesellschaften auf Grabsteinen auf dem Land mit denen in der Stadt verglichen. Denn Flechten sind Bioindikatoren für Luftverschmutzung.

Das heißt, wenn die Luft schlecht ist, wachsen viele Flechtenarten nicht? Wieso?

Flechten haben keine Wurzeln, sondern nehmen alle Nährstoffe aus der Luft auf, auch das Wasser. Daher reagieren sie extrem empfindlich auf Schadstoffe in der Luft.

Findet man in der Stadt dann überhaupt noch Flechten?

Oh ja! Die waren lange Zeit verschwunden, weil in Europa zur Zeit der industriellen Revolution viele Städte stark unter Luftverschmutzung gelitten haben. Da hat noch jeder mit Kohleöfen geheizt, und über den Städten lag eine Dunstglocke, es war viel giftiges Schwefeldioxid in der Luft. Aber im Laufe der Zeit hat sich die Luft verbessert und die Flechten, die noch nicht vollständig ausgestorben waren, sind langsam wieder zurückgekommen.

Schriftflechte
Keine Krankheit, sondern eine harmlose FlechteBild: DW/B. Osterath

Es kommt ironischerweise vor, dass Leute sich Sorgen machen, weil ihr Baum im Garten plötzlich so viele Flecken hat. Ob der wohl krank ist? Aber die bunten Flecken sind nur Flechten, die dem Baum ganz und gar nicht schaden. Man kann sich vielmehr darüber freuen, dass die Luft offensichtlich besser geworden ist. Das ist ein gutes Zeichen. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Flechten?

Dass wir den übertriebenen Reinlichkeitswahn infrage stellen und unsere Grabsteine nicht sauber scheuern, die Gehwege und Mauern nicht mit Hochdruckreiniger blank polieren. Stattdessen sollten wir uns an der prächtigen Flechtenwelt darauf erfreuen, denn sie schützt das Gestein sogar vor Verwitterung. In England stehen inzwischen nicht nur alte Kirchen und ihre Friedhöfe unter Denkmalschutz - die Behörden schützen sogar die Artenvielfalt der Flechten darauf ausdrücklich.

Also beim nächsten Spaziergang durch Stadt und Wald einfach mal genauer hinschauen, was da alles so wächst?

Auf jeden Fall! Man kann an einer Friedhofsmauer vorbeigehen oder über den Bürgersteig, überall sieht man irgendwelche Flecken - und das sind ganz oft Flechten, also Lebewesen. Wenn man genauer hinschaut, vielleicht auch mal die Lupe zur Hand nimmt, wird einen diese Welt, die man sonst übersieht, überraschen!

Frank Bungartz ist Biologe und spezialisiert auf Flechten. Während seiner Doktorarbeit an der Arizona State University im Südwesten der USA beschäftigte er sich mit gesteinsbewohnenden Krustenflechten in der Sonora-Wüste. Seit zwölf Jahren forscht er an Flechten auf Galápagos. Dafür hat er mit seiner Familie neun Jahre auf den Galápagos-Inseln gelebt.

Das Interview führte Brigitte Osterath.