Flüchtlinge – die Arbeitskräfte für morgen?
Die deutsche Bevölkerung wird immer älter. Die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt kann eine Chance darstellen, entstehende Lücken zu füllen. Oder doch nicht?
Deutschland sieht sich wie viele Industriestaaten mit einem großen Problem konfrontiert: einem Arbeitskräftemangel aufgrund des demografischen Wandels. Egal, in welchem Berufsfeld: Langjährige, erfahrene Fachleute gehen in den Ruhestand, Nachwuchs fehlt und wird händeringend gesucht. Vor allem in Ingenieur- und Handwerksberufen gibt es zahlreiche unbesetzte Stellen. Für Entlastung der Situation könnten die Menschen sorgen, die ihre Heimatländer verlassen haben und auf der Suche nach einer sicheren Bleibe und Arbeit auch nach Deutschland kommen. Trotz unterschiedlicher Kultur und fehlender deutscher Sprachkenntnisse bemühen sich Unternehmen die vor allem jungen Flüchtlinge und Zuwanderer zu integrieren. Zu diesen Unternehmen gehört unter anderen die Siemens AG. Hier werden ausgewählte Flüchtlinge in gesonderten Klassen ein halbes Jahr auf ihr jeweiliges Betätigungsfeld vorbereitet. Diejenigen, die sich bewährt haben und sich für eine Lehre etwa als Mechaniker oder Elektroniker eignen, werden dann für eine Ausbildung eingestellt. Die Auswahl geeigneter Kandidatinnen und Kandidaten erfolgt in der Regel über die Bundesanstalt für Arbeit. Allerdings bewerben sich manche Flüchtlinge auch auf direktem Weg selbst, sagt Alexandra Frommer von der Siemens AG:
„Die haben unser Online-Assessment durchgeführt, die haben ein Bewerbungsgespräch geführt, und diese haben wir auch schon eingestellt. Also, es gibt auch diese Beispiele, die sich ganz direkt über unseren normalen Bewerberprozess bewerben und auch erfolgreich beworben haben.“
Wer sich heutzutage in Deutschland bei einem Unternehmen um eine Stelle bewirbt, muss häufig zunächst ein sogenanntes Online-Assessment durchführen. Es handelt sich hierbei um eine Art Internet-Fragebogen, der zur Einschätzung der Fähigkeiten und der Eignung einer Bewerberin beziehungsweise eines Bewerbers dient. Die Testergebnisse werden dann mit dem sogenannten Anforderungsprofil verglichen. Stimmt beides überein, wird jemand zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Und das hat laut Alexandra Frommer auch mancher Flüchtling geschafft. Ein weiteres Großunternehmen, das Flüchtlingen eine Chance gibt, ist die Deutsche Post DHL Group. Dort werden auch Flüchtlinge ohne große Vorkenntnisse an ihre neue Arbeit herangeführt. Das gestaltet sich, wie Christof Erhart von der Deutsche Post DHL Group sagt, so:
„Sie beginnen in der Regel im Innendienst und gehen dann aber auch raus in die Zustellung – was am meisten Spaß macht, weil man da auch unmittelbar direkt helfen kann beim Schwertragen, Türaufhalten, Dingebewegen. Die Kollegen, die sie begleiten, haben so ‘ne Art Mentorenrolle für sie, machen sie mit den Gepflogenheiten des Betriebs und der Arbeitsweise bei uns im Land vertraut.“
Nachdem erste Erfahrungen im Innendienst gemacht wurden, beispielsweise in den Brief- oder Paketzentren, werden Flüchtlinge auch im Außendienst eingesetzt. Sie lernen, Postsendungen und Päckchen zuzustellen, sie zum Kunden zu bringen. Begleitet werden sie von Mentoren, die ihnen bestimmte Werte vermitteln, die für das Unternehmen wichtig sind. Sie werden mit den Gepflogenheiten vertraut gemacht. Dazu gehört – wie Christof Erhart schildert – unter anderem:
„Dass man den Flüchtlingen, die zu uns in den Betrieb kommen, ein Gefühl dafür vermittelt, wie Arbeitsablauf in Deutschland funktioniert, woraufs ankommt, welche Rolle Aspekte wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Kundenorientierung, das Arbeiten im Team, welche Rolle das spielt. Und das kann man nur, wenn man das vorher in der Kultur nicht erlebt hat, lernen, wenn man das in der Praxis erlebt.“
Diese Zeit der Praktika beziehungsweise der Qualifizierung dauert zwischen sechs Wochen und drei Monaten. Dazu gehört neben der Arbeit auch das Erlernen der deutschen Sprache. Im Idealfall steht am Ende des Praktikums eine Einstiegsqualifizierung, die in einer Ausbildung zur Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen münden kann. Trotz aller Hoffnung, dass Zuwanderer aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder anderen Staaten, den drohenden Arbeitskräftemangel in Deutschland beseitigen helfen: Integration braucht Zeit. Außerdem können Flüchtlinge nicht das demografische Problem lösen, meint der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel:
„Wir haben zurzeit eine Entwicklung, wo schon seit fast einem halben Jahrhundert nur etwa zwei Drittel der Zahl der Kinder geboren wird, die zur Erhaltung des Bestandes der Bevölkerung erforderlich wären. Und das wiederum bedeutet, dass wir in enormen Zahlen Zuwanderer, ich will gar nicht von Flüchtlingen sprechen, willkommen heißen müssten, um diese demografische Frage, ich will nicht sagen, zu lösen, sondern zu kaschieren.“
Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erlebte Deutschland einen Rückgang der Geburtenzahlen. Zu den Gründen gehörten geänderte Lebensweisen und neu definierte Geschlechterrollen in den Industriestaaten. Seit Mitte der 1960er Jahre wurden 600.000 bis 650.000 Kinder jährlich geboren. Erforderlich gewesen wären nach Erkenntnissen von Meinhard Miegel rund eine Million im Jahr. Um die entstehende Differenz jedes Jahrgangs auszugleichen, müssten jährlich sehr viele, enorme, Mengen von Flüchtlingen und Zuwanderern ein Bleiberecht in Deutschland erhalten. Und damit würde nach Meinung von Meinhard Miegel das Problem fehlender Arbeitskräfte nur überdeckt, kaschiert. Denn eine Lösung sähe für ihn anders aus:
„Lösung bedeutet, dass diese Menschen, die hierher kommen, an die Stelle von nicht geborenen Kindern treten müssten. Das heißt, sie müssten sehr jung sein, sie müssten qualifizierbar sein, sie müssten motiviert sein, sich zu integrieren. Das sind alles Voraussetzungen, die bisher nicht geschaffen worden sind. Aber wir tun immer so, als könnten wir durch diese Flüchtlinge demografische Probleme lösen.“
Ob die Zuwanderer letztendlich einen dauerhaften wirtschaftlichen Nutzen für die alternde Gesellschaft darstellen oder doch eher eine Belastung für das deutsche Sozialsystem, ist unter Wirtschaftswissenschaftlern umstritten. Der Chefökonom der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau etwa, bezeichnete die Zuwanderung auf einer Pressekonferenz in London Anfang 2016 als einen „volkswirtschaftlichen Segen“. Clemens Fuest, Professor für Volkswirtschaftlehre und Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW, dagegen meint:
„Positiv sind die Wirkungen auf unsere Altersstruktur. Es gibt also mehr junge Leute, es kommen neue Ideen mit den Flüchtlingen. Negativ ist, dass wir einen ausgebauten Sozialstaat haben und die Flüchtlinge viele Jahre lang nichts oder wenig verdienen werden und den Staat deutlich mehr kosten werden, als sie an Steuern und Abgaben beitragen.“
Deutschland ist – wie es Clemens Fuest formuliert – ein ausgebauter Sozialstaat, bietet also Leistungen wie eine Arbeitslosenunterstützung, Krankengeld, eine Ausbildungsförderung und Wohngeld. Trotz unterschiedlicher Einschätzung sind sich alle Experten aber in einem Punkt einig: Dass es entscheidend sein wird, wie schnell es gelingt, die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und schließlich, so Clemens Fuest, sollte doch ein anderer Aspekt im Vordergrund stehen:
„Das Ganze ist also nicht eine Geschichte, bei der wir jetzt reicher sind als vorher – jedenfalls nicht im materiellen Sinne.“
Autorin: Beatrice Warken (mit Thomas Kohlmann, Klaus Ulrich)
Redaktion: Ingo Pickel
Arbeitsauftrag
Sucht zum Thema „Integration von Flüchtlingen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ im Internet nach einem Videobeispiel ähnlich diesen beiden Beispielen: http://bit.ly/1Tnn8E6und http://bit.ly/1TnnnPl. Stellt die jeweilige Person vor. Schildert dabei auch die Schwierigkeiten, mit denen sie und die jeweiligen Unternehmen sich bei der Integration konfrontiert sehen.