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Filmische Reise in die Abgründe eines Triebtäters

28. August 2006

"Der freie Wille" mutet dem Kinopublikum einiges zu: Er erzählt die Geschichte eines Vergewaltigers in allen widerwärtigen Details. Also wenig überraschend, dass der Filmstart eine Welle der Kontroversen lostritt.

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Schauspieler Jürgen Vogel: Wie frei ist der Wille?Bild: Berlinale

"Der Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einen, wenn man hinab sieht." Diese Worte legte schon Georg Büchner seiner gequälten Dramenfigur Woyzeck, die von der Gesellschaft zum Mörder gemacht wird, in den Mund. Und in eben jene Abgründe taucht auch Matthias Glasners "Der freie Wille" ganze drei Filmstunden lang ein: Theo Stoer (gespielt von Jürgen Vogel) ist ein frustrierter, aufbrausender, brutaler Mann der Arbeiterklasse, der zum sexuellen Triebtäter und Vergewaltiger wird. Gleich zu Beginn des Films rastet er nach einem Streit an seinem trostlosen Arbeitsplatz in einer Großküche aus und vergeht sich kurze Zeit später an einem jungen Mädchen auf derart bestialische Weise, dass der Zuschauer sich eigentlich nur noch angewidert von dieser scheußlichen Figur abwenden möchte. Doch so leicht macht es ihm Regisseur Matthias Glasner nicht: Theo wird zwar verhaftet und weggesperrt, doch nach einem neunjährigen Zeitsprung begegnet ihm das Kinopublikum bei seiner Haftentlassung wieder.

Kampf gegen die eigenen Triebe

Der freie Wille | The Free Will | Der freie Wille Berlinale 2006
Zum Scheitern verurteilt: Die Liebe eines TriebtätersBild: Berlinale

Da steht er nun, nach abgesessener Strafe, gealtert, zermürbt, gebrochen. Um nicht wieder die Kontrolle über sich und seinen Körper zu verlieren, bleibt ihm nur Selbstkasteiung durch härtestes Krafttraining sowie seine Phantasiewelt der Masturbation. Sein Bewährungshelfer Sascha hat ein Herz für Gestrandete wie Theo und besorgt ihm Job und Unterkunft. Ein neues Leben könnte beginnen – wenn Theo nicht ständig von seinem alten eingeholt werden würde: Junge Frauen, die alleine unterwegs sind, Plakatwerbungen mit nackter Haut – die Dämonen lauern überall.

Es gibt aber auch einen Lichtblick in Theos düsterer Welt: Er trifft ihn in Gestalt von Nettie, der scheuen, ebenfalls einsamen Tochter seines neuen Chefs. Nach behutsamem Herantasten finden die beiden langsam zueinander und entwickeln eine vertraute, schließlich intime Beziehung. Theo weiß, dass sich Netties Liebe nicht erzwingen lässt, schon gar nicht mit Gewalt. Doch der Zuschauer hat nicht vergessen, mit wem er es eigentlich zu tun hat - und schon bald findet dies Nettie auch selbst heraus: Bei der ersten Krise fällt Theo zurück in alte Muster.

Erwartbare Polarisierung

BdT Deutsche Schauspieler räumten ab auf der Berlinale 2006
"Beste künstlerlische Leistung": Vogel bei der Berlinale 2006Bild: AP

Bereits bei der Berlinale im Februar 2006, wo "Der Freie Wille" im Wettbewerb lief – und Hauptdarsteller Jürgen Vogel für seine Leistung mit dem silbernen Bären ausgezeichnet wurde -, polarisierte der Film das Publikum. Die Frage, ob ein Film sich einen Vergewaltiger zum Protagonisten nehmen und die Opferseite dabei nahezu vollständig ausblenden dürfe, müsse laut einigen Kritikern eindeutig verneint werden. Zu groß sei die Gefahr, bei aller Antipathie dennoch um Verständnis oder gar Mitleid für Triebtäter zu werben. Andere tadeln wiederum die eitle Selbstdarstellung Jürgen Vogels, die mikroskopisch dargestellte Gewalt und das fehlgeschlagene Prinzip des "Gutgemeinten".

Doch es gab auch Stimmen, die die ehrliche und schonungslose Art bewundern, mit der der Film dem Zuschauer die dunkle Seite eines jeden "freien Willens" vor Augen führt: Auch Theo hat die Gelegenheit, selbst über sein Schicksal zu entscheiden. Dass dieses kein gutes Ende nimmt, hat er letzten Endes – und darin unterscheidet er sich von Büchners Frauenmörder Woyzeck – selbst zu verantworten. (lc)