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Beschwerdeflut am Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte

1. Februar 2012

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte will effizienter arbeiten. Lang blockierte Reformen zeigen Erfolge. Doch die Fälle stauen sich weiter - denn Menschenrechtsverletzungen gibt es noch immer zuhauf in Europa.

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Eine Menschengruppe steht vor dem Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. (Foto: dpa)
Andrang am Europäischen Gerichtshof für MenschenrechteBild: picture-alliance/dpa

150.000 Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen sind am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg derzeit anhängig. "Dieser Fallstau ist unakzeptabel", sagt der britische Gerichtspräsident Sir Nicoals Bratza. Dabei greift seit Juni 2010 die von Russland jahrelang blockierte Reform des 14. Protokolls, das der Europäischen Menschenrechtskonvention beigefügt wurde. Dieses soll das Abarbeiten der angestauten Fälle ermöglichen. "Die erzielten Ergebnisse sind besser, als wir gedacht haben", so das Resümee von Nicolas Bratza auf der Jahrespressekonferenz des Gerichts Ende Januar 2012.

Der wichtigste Teil der Reform ist der Einsatz von Einzelrichtern: Sie dürfen in eindeutig unzulässigen Fällen, die keiner weiteren Untersuchung bedürfen, allein entscheiden - und die Fälle abweisen. Wenn man bedenkt, dass etwa 90 Prozent der Fälle vor dem EGMR abgewiesen werden, ist die schnelle Bearbeitung einfacher Fälle durch den Einzelrichter durchaus effizient. Ansonsten entscheiden Kammern mit drei oder mit sieben Richtern oder - in Ausnahmefällen - die Große Kammer mit 17 Richtern.

Jahres-PK des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: (v.l.n.r.: Michael O´Boyle, Nicolas Bratza, Patrick Titiun, Erik Friberg) (Foto: DW/D. Grathwohl)
Der EGMR zieht eine überwiegend positive Jahres-BilanzBild: DW

Reformen gegen Rückstau aus Russland

Eine weitere Verbesserung ist die Verstärkung der Registratur mit etwa 35 Juristen. "Vor allem die finanzielle Unterstützung der Russischen Föderation hat dazu geführt, dass wir nun allein 20 russische Juristen haben, die an Einzelrichter-Fällen gegen Russland arbeiten", führt Präsident Bratza aus. Die russischen Juristen wurden von der Registratur des EGMR ausgesucht, so Bratza weiter.

Russland hat den größten Rückstau an Fällen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dass das Land der Einzelrichter-Reform des 14. Protokolls zugestimmt hat, bedeutet, dass man die teils Jahre alten Fälle endlich aufarbeiten kann. Im Jahr 2011 kamen aus nur vier Staaten mehr als ein Drittel aller Fälle an den Gerichtshof - aus der Türkei, Russland, der Ukraine und Griechenland. Die restlichen Fälle kamen aus den übrigen 43 Staaten des Europarates. 92.000 Fälle wolle man bis 2015 abarbeiten, so Bratza.

Die frühere ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko (Foto: dapd)
Der Fall Timoschenko liegt auch in StraßburgBild: dpad

Doch das Gericht kämpft weiter mit der Flut der Beschwerden. Insgesamt entschied es 2011 in mehr als 52.000 Fällen, ob das Verfahren zulässig ist. In nur 1150 Fällen fiel tatsächlich ein Urteil in der Sache und das Gericht verurteilte einen Staat des Europarates wegen Menschenrechtsverletzungen. Das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren war am häufigsten verletzt worden - mehr als ein Drittel aller Verurteilungen aus dem Jahr 2011 bezog sich darauf. Am zweit- und dritthäufigsten verurteile das Gericht Staaten dafür, dass sie Folterverbot und den Schutz des Eigentums verletzt hatten.

Umstrittene Richterwahl

Vor dem Straßburger Menschenrechts-Gerichtshof können sich Privatpersonen, Staaten, aber auch nichtstaatliche Organisationen beschweren, wenn sie meinen, ihre in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgeschriebenen Rechte seien von einem Mitgliedsstaat des Europarats verletzt worden. Ein häufiger Kritikpunkt war immer wieder die Wahl der Richter: Jeder Mitgliedsstaat des Europarates schlägt drei Richter vor, aus denen die Parlamentarische Versammlung des Europarates einen aussucht. So entsteht das 47-köpfige Richterkollegium des EGMR. Doch kann ein vom Mitgliedsstaat vorgeschlagener Richter tatsächlich unabhängig sein?

Protestschild vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Foto: DW/D.Grathwohl) Straßburg, 25.1.2012
Auch vor dem Gericht wird für Menschenrechte protestiertBild: DW

Gerichtspräsident Bratza versteht die Kritik. Seiner Meinung nach habe sich die Richterwahl zumindest auf Straßburger Ebene verbessert: Jetzt habe man ein Panel von Experten, das die drei Personen untersucht, die von den nationalen Regierungen als Richter vorgeschlagen werden. "Das ist ein sehr wertvoller Schritt und Schutzmechanismus gegen nicht adäquate Kandidaten, die von den Mitgliedsstaaten vorgeschlagen werden", so Bratza. Und auch auf nationaler Ebene sei die Auswahl der Richter, die für das Straßburger Gericht vorgeschlagen werden, transparenter geworden, findet Nicolas Bratza.

Mehr Geld und mehr Akzeptanz

Doch der Brite fordert mehr Engagement von den Mitgliedsstaaten: "Der Schutz der Menschenrechte ist zu wichtig und zu komplex, als dass man ihn nur einer Institution anvertrauen dürfte. Es braucht eine kollektive Anstrengung." Dabei ginge es nicht nur um die Aufstockung des Gerichtsbudgets, das im Jahr 2010 bei 58 Millionen Euro lag. Ebenso wichtig sei es, die Unabhängigkeit und Autorität des Gerichts nicht zu untergraben. "Kritik von Regierungen, die natürlich legitim sein kann, sollte auf vernünftigen Argumenten basieren und nicht auf Emotionen und Übertreibungen", vertritt Nicolas Bratza.

Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Sir Nicolas Bratza (Foto: DW/D.Grathwohl)
Freund klarer Worte: Gerichtspräsident Sir Nicolas BratzaBild: DW

Stattdessen erwarte er im Jahr 2012 Reform-Vorschläge von den Mitgliedsstaaten des Europarats, so der Präsident. So war es zumindest vor zwei Jahren auf der Konferenz von Interlaken beschlossen worden.

Autorin: Daphne Grathwohl
Redaktion: Diana Hodali