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Fünffacher Schock für Russlands Wirtschaft

Ewlalia Samedowa Moskau / mo
15. April 2020

Nach Schätzungen von Experten könnte das Bruttoinlandsprodukt Russlands wegen der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen stark einbrechen. Sie warnen vor den sozialen und politischen Folgen. Von Ewlalia Samedowa, Moskau.

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Eine Rubelmünze vor der Silhouette des Kreml
Bild: Alexander Nenenov/AFP/Getty Images

Ökonomen auf der ganzen Welt sagen aufgrund einer Überbewertung der Märkte schon seit Längerem eine globale Krise voraus. Doch weder der Brexit noch der Handelskrieg zwischen den USA und China haben bisher dazu geführt. Igor Nikolajew vom russischen Institut für strategische Analyse "FBK Grant Thornton" ist überzeugt, dass nun die Corona-Pandemie der Auslöser für eine weltweite Wirtschaftskrise sein wird.

Laut FBK-Prognose wird die Weltwirtschaft im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um drei bis fünf Prozent schrumpfen - das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA um fünf bis zehn Prozent und das von Russland sogar um zehn bis 20 Prozent. Für Russland könnte dieses Jahr demnach das schlimmste seit 1992 werden.

Damals betrug der Rückgang des BIP laut Weltbank 14,5 Prozent. Selbst in den Krisenjahren 2009 und 1998 sei das russische BIP nur um 7,8 beziehungsweise 5,3 Prozent gesunken, so Nikolajew. Ihm zufolge ist China das einzige Land, das mit symbolischen null bis ein Prozent in diesem Jahr im positiven Bereich bleiben wird.

Ölpreis und Nachfrage sinken

Die Besonderheit Russlands besteht nach Ansicht von Nikolajew darin, dass die globale Krise mit einem Rückgang der Ölpreise einhergeht. "Die Welt wird nie wieder die gleiche sein, die Wirtschaft und ihre Strukturen werden sich verändern. Es wird keine Nachfrage nach Öl in Höhe der früheren Mengen geben", sagt er. Dies sei für Russland schlecht, weil es nach wie vor vom Öl-Export abhänge.

Experten gehen davon aus, dass der durchschnittliche Preis für russisches Öl der Sorte Urals im Jahr 2020 bei 25 US-Dollar liegen könnte. Schon jetzt ist er unter den Preis des Jahres 1998 gefallen und wird im zweiten Quartal weniger als 15 US-Dollar pro Fass betragen. Gleichzeitig gibt es nur eine geringe Hoffnung auf eine Preissteigerung. Sie wäre nur möglich, wenn der Straßen- und Luftverkehr wieder voll aufgenommen wird.

Ölförderung in Westsibirien
Ölförderung in Westsibirien: Russische Abhängigkeit von Öl-ExportenBild: Imago-Images/ITAR-TASS

"Die Nachfrage nach Öl ist um rund 30 Prozent zurückgegangen", sagt Oleg Wjugin von der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau. Die gerade beschlossene, nie dagewesene drastische Drosselung der Förderung reicht demnach nicht. Die OPEC und ihre Partner, darunter auch Russland, hatten sich am Sonntag darauf verständigt, im Mai die Rohölförderung um zehn Prozent zu verringern. 

Kapitalflucht, Isolation und Unsicherheit

Ewsej Gurwitsch von der russischen "Economic Expert Group" (EEG) sieht neben der Pandemie und den fallenden Ölpreisen noch drei weitere Schockmomente auf Russland zukommen. "In Krisen flüchtet Kapital immer in die am meisten entwickelten Volkswirtschaften. So war es auch 2009. Obwohl damals die USA das Epizentrum der Krise waren, flüchtete Kapital dorthin", erläutert der Ökonom dieses Prinzip.

Außerdem gerate Russland zunehmend in eine problematische isolierte Lage - hervorgerufen durch die weltweiten Corona-bedingten Einschränkungen im Waren- und Personenverkehr. "Ein weiterer Schockmoment für die Wirtschaft ist die große Unsicherheit, denn Unternehmen können nicht planen und bekommen vom Staat praktisch keine Hilfe", so Gurwitsch.

In diesem Zusammenhang betont Oleg Wjugin, dass die USA ihren Bürgern und Unternehmen Hilfen in Höhe von rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukt zur Verfügung stellen würden, die Europäische Union und Japan in Höhe von zehn Prozent und Russland nur in Höhe von zwei bis 2,5 Prozent. Die russische Führung wolle offenbar nicht zu stark auf die Rücklagen des Nationalen Wohlfahrtsfonds zurückgreifen. "Unser Staat ist es gewohnt zu nehmen und nicht zu geben", bedauert Wjugin.

Igor Nikolajew vermutet, die Mittel im Nationalen Wohlfahrtsfonds könnten schon für andere Zwecke bestimmt sein. "Anscheinend hat sich insgeheim eine Schlange von Antragstellern gebildet, die für diese Gelder anstehen", so der Experte.

Russland | Coronavirus | Lockdown | Danilovsky-Markt in Moskau
Geschlossener Laden im Danilovsky-Markt in Moskau: Untätigkeit der russischen Regierung?Bild: picture-alliance/dpa/S. Krasilnikov

Gleichzeitig kritisiert er, dass die Regierung die Steuergesetze verschärft. So sei ein Steuersatz von 15 Prozent für diejenigen eingeführt worden, die Einkünfte in Form von Dividenden auf ausländische Konten überweisen, und ein Steuersatz von 13 Prozent für diejenigen, deren Bankeinlagen insgesamt eine Million Rubel überschreiten.

"Man nutzt die Krise aus, um Steuernovellen durchzudrücken", sagt Nikolajew. Er findet, statt Steuererhöhungen sollte man eher die Wirtschaft unterstützen, indem man Nachfrage erzeugt und fördert.

Soziale und politische Auswirkungen

Den Experten zufolge brauchen in Russland bereits jetzt viele Millionen Menschen Hilfe. Die aktuelle Politik werde zu großen sozialen Problemen führen, meint Oleg Buklemischew vom Zentrum für wirtschaftspolitische Studien an der Moskauer Staatlichen Universität. "Es wird enorme Verluste an Arbeitskräften und sozialem Kapital geben. Auch nach der Krise wird Russland lange nicht zum früheren Zustand zurückfinden", warnt er und fügt hinzu, dass Langzeitarbeitslose vielleicht gar nicht mehr auf den Arbeitsmarkt zurückkehren könnten. Diese Gefahr werde unterschätzt.

Buklemischew zufolge verstärkt eine Untätigkeit der russischen Regierung die Unsicherheit im Land. "Alle Entscheidungen werden kurzfristig getroffen. Wenn die Produktionsketten zum Stillstand kommen, werden die Unternehmer entscheiden, ihre Firmen zu schließen und Menschen entlassen", sagt der Experte. Dies werde Folgen für die Politik haben. "Im Zuge einer sozialen Unzufriedenheit werden Populisten, ohne wirtschaftliche und soziale Verantwortung an die Macht kommen. Ich erwarte in politischer Hinsicht nichts Gutes", so der Ökonom.