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Evonik-Vorstandschef: Geht wählen!

Insa Wrede
15. Mai 2019

Verschiedene große deutsche Konzerne haben ihre Mitarbeiter aufgefordert, bei der Europawahl wählen zu gehen. Darunter auch Evonik. Vorstandschef Christian Kullmann im DW-Interview.

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Christian Kullmann, CEO Evonik
Bild: picture-alliance/Sven Simon

Deutsche Welle: Wie Eon, ThyssenKrupp und RWE fordern auch Sie ihre Mitarbeiter auf, zur Europawahl zu gehen. Warum tun Sie das?

Christian Kullmann: Wenn ich an Europa denke, dann denke ich an eine sehr lange Friedenszeit in Europa - seit 1945. Ich denke an Wohlstand und Wachstum - nicht nur hier in Deutschland sondern in ganz Europa. Und ich denke an eine demokratische Zukunft Europas in einer sich verändernden Welt. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen zur Wahl gehen und ihre Chance wahrnehmen, die Zukunft Europas mitzugestalten.

Und wenn sie an Europa denken, denken sie sicherlich auch an ihr Unternehmen. Welchen Stellenwert hat Europa für Evonik?

Europa ist unser Heimatmarkt. Evonik macht etwa 15 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Davon erwirtschaften wir etwa 40 Prozent in Europa. In Europa sind wir zu Hause und hier in Europa sehen wir wunderbare Wachstumschancen. Die können wir aber nur nutzen, wenn wir offene Grenzen haben und wenn wir in Europa eine starke, stabile Demokratie haben.

So ein Wahlaufruf könnte man ja auch als einen PR-Coup verstehen…

Evonik ist der Hauptsponsor des Fußballvereins Borussia Dortmund. Das ist für uns erfolgreiche PR. Hier aber geht es doch um viel mehr! Von den 36.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die der Konzern beschäftigt, arbeiten und leben 20.000 in Europa. Das sind, wenn man die Familienmitglieder dazurechnet, annähernd 100.000 Menschen. Und ein Konzern wie Evonik hat auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Es sind Mitarbeiter, die hier leben, die hier mit ihren Kindern mit ihren Familien ihre Zukunft suchen. Das muss eine Zukunft sein in einer offenen, demokratischen, liberalen und toleranten Gesellschaft. Also ein PR-Coup sieht anders aus. Der Wahlaufruf ist mir ein Herzensanliegen, damit sich die Menschen für Europa engagieren und einsetzen. Das tut jeder dann am besten, wenn er zur Wahl geht.

Wie sehen Sie generell die Rolle von Führungskräften? Sollten Manager sich in sozialen Bereichen stärker engagieren?

Ja, auf jeden Fall! Es ist sicherlich ein Defizit, dass sich die industrielle Elite für meinen Geschmack in der Vergangenheit deutlich zu wenig in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs eingebracht hat. Wir vertreten die Interessen unserer Konzerne, aber damit doch zugleich auch die Interessen von vielen hunderttausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Und diese Stimme muss gehört werden.

Sie sind ja nicht nur Chef von Evonik, sondern auch Vizepräsident des Verbandes der Chemischen Industrie. Dieser Verband ist Mitglied in der Europäischen Bewegung Deutschland, die eine Kampagne für die Europawahl 2019 durchführt. Da werden zum Beispiel Naturschutzorganisationen zitiert, um zum Wählen zu motivieren. Beispielsweise "Bienen halten sich nicht an Grenzen. Wer Natur europaweit bewahren will, wählt natürlich Europa".

Auf der anderen Seite ist der Verband der Chemischen Industrie einer der größten Lobby- Akteure in Brüssel und hat das größte Budget. Gerade Chemieunternehmen haben in der Vergangenheit hart dafür gekämpft, dass Umweltschutz nicht die Interessen des eigenen Unternehmens beschneidet. Da muss man nur an Glyphosat oder Verpackungen mit Bisphenol A denken. Wie passt das zusammen?

Was macht eine Demokratie aus? Der Austausch, die Diskussion und auch der offen ausgetragene Diskurs, der Streit um den besten Weg. In Europa ist die soziale Marktwirtschaft Ausdruck unserer Demokratie und dazu gehört, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen und uns bemühen müssen, bei Dingen, die für die Zukunft der Gesellschaft wichtig sind, Lösungen zu finden.

Radikaler Umweltschutz ist genauso falsch wie das radikale Vertreten von Kapitalmarkt-Interessen. Diese Dinge zusammenzubringen ist Aufgabe einer Demokratie. Dazu gehört für uns als chemische Industrie, unsere Position klarzumachen und anzubieten, uns mit anderen gesellschaftlichen Einfluss-Gruppen auszutauschen, um gute Lösungen zu finden. Das ist gelebte Demokratie.

Allerdings ist die Lobby des Verbandes der Chemischen Industrie wesentlich größer als die von beispielsweise Nichtregierungsorganisationen. Viele Interessensgruppen haben gar keine Lobby in Brüssel. In Europa sind aber viele Bürger frustriert, weil sie das Gefühl haben, nicht repräsentiert zu werden und keine Stimme zu haben. Viele sind der Meinung, die Politik würde Interessen gelenkt sein und für die Industrie gemacht werden. Meinen Sie, es wäre gut, den Lobbyismus mehr zu reglementieren und einzuschränken?

Ich hoffe, dass sowohl die Politiker in Brüssel, in Berlin und in jeder anderen europäischen Hauptstadt die wirtschaftlichen Interessen ihrer Länder bei ihren Entscheidungen stark berücksichtigen. Denn mit diesen wirtschaftlichen Interessen sind auch die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in diesem Land, also letztlich der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, verbunden. Die Industrieverbände nehmen ihre Interessen in Brüssel wie in Berlin auf sehr vernünftige Art und Weise wahr und ebenso tun das auch die Lobbyorganisationen von anderen Interessen, beispielsweise von gesellschaftlichen Einfluss-Gruppen rund um das Thema Ökologie. Denken Sie nur an die sehr starke Lobbyorganisation der Windkraft-Industrie.

Nicht alle Mitgliedsstaaten sind von einem geeinten Europa überzeugt - hat Evonik die Austrittsbestrebungen Großbritanniens schon zu spüren bekommen?

Der Brexit ist ein großer Fehler. Er wird Europa schwächen und Großbritannien in eine ökonomische Krise stürzen. Wir von Evonik sind vom Brexit nur am Rande betroffen. Und doch ist festzustellen, dass die Entscheidung, die eine Mehrheit der britischen Wählerinnen und Wähler getroffen hat, in meinen Augen gänzlich falsch war, weil sie Europa schwächt. Die Auswirkungen für Evonik sind aber marginal. Wir sind ein weltweit agierender Chemiekonzern und haben in über hundert Ländern der Welt Fabriken.

Das andere große Thema zurzeit ist die restriktive Handelspolitik von Donald Trump. Inwieweit ist Ihr Unternehmen davon betroffen, beispielsweise wenn jetzt tatsächlich Zölle auf die europäische Autoindustrie zukommen sollten? Und wie soll die EU Ihrer Meinung nach mit Trump umgehen?

Die Wirtschaftspolitik der amerikanischen Regierung orientiert sich wenig an den Spielregeln des Multilateralismus und birgt damit erhebliche Risiken für die Entwicklung der Konjunktur weltweit. Die Industrieunternehmen in Europa, die Wirtschaft in Europa wird nur dann eine gute Position in solchen Verhandlungen einnehmen können, wenn es gelingt, mit einer Stimme zu sprechen. Und dafür brauchen wir ein starkes geeintes Europa.

Henry Kissinger hat einmal gefragt, wen muss ich anrufen, wenn ich mit Europa sprechen möchte. Darauf sollten wir eine Antwort geben und diese Antwort kann nur sein, dass wir eine starke europäische Position einnehmen. Dafür müssen wir uns einig sein - in Brüssel und auch im Auftreten gegenüber der amerikanischen Regierung. 

Was wünschen Sie sich von Europa in Zukunft?

Die Zukunft Europas muss demokratisch, liberal und tolerant sein. Sie sollte ihre Kraft aus der Vielfalt der unterschiedlichen Kulturen in den jeweiligen Mitgliedsländern speisen. Konkret bedeutet das für mich, dass ich mir ein Europa wünsche, in dem wir eine gemeinsame Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Finanzpolitik und eine gemeinsame Außenpolitik haben.

Sie hatten im Oktober 2018 vor einem überhasteten Kohleausstieg gewarnt. Zitat "Was wir zurzeit in unserem Land erleben, das ist die Wiederkehr der deutschen Romantik", und die sei eine Gegenbewegung zur Aufklärung, die wiederum auf Vernunft basiere. Jetzt hat gerade eine UN-Studie sehr deutlich vor einem dramatischen Artensterben weltweit gewarnt. Woran in den nächsten zehn bis 20 Jahren laut den Forschern in erster Linie der Klimawandel schuld sein wird. Die Forscher fordern, dass ein gesellschaftliches Umdenken auf allen Ebenen stattfinden muss, um einen ökologischen Zusammenbruch zu verhindern. Haben Sie inzwischen umgedacht?

Der Klimawandel ist eine Bedrohung für die Zukunft der Welt. Den Klimawandel kann aber keine Nation für sich alleine lösen. Es bedarf weltweiter Anstrengungen und einer koordinierten Vorgehensweise. Der Ausstieg aus der Nutzung der Stein- und Braunkohleverstromung, wie ihn die Kommission beschlossen hat, ist langfristig gedacht und im Ergebnis durchaus vernünftig. Gleichwohl ist anzumerken, dass uns dieser Ausstieg etwa einhundert Milliarden Euro kosten wird. Der Effekt auf den weltweiten CO2-Ausstoß liegt aber bei unter einem Prozent. Das ist ein deutscher Weg, ein möglicher Weg. Es ist für die Welt aber kein vorbildlicher Weg, weil es so schlichtweg zu teuer werden würde, den weltweiten Klimawandel einzuleiten.

Allerdings gehen die Kosten des Klimawandels auch in die Milliarden...

Das ist zweifellos richtig. Aber alleine in diesem Jahr werden in China 1500 neue Kohlekraftwerke gebaut, deren Emissionswerte deutlich höher sind als die von deutschen Kohlekraftwerken. Dieses eine Beispiel zeigt bereits, wie wichtig weltweit koordinierte Überlegungen, Pläne und Anstrengungen sind, um den Klimawandel in den Griff bekommen zu können.

Christian Kullmann ist seit Mai 2017 Vorstandschef des Spezialchemiekonzerns Evonik. Evonik ist 2006 aus den Chemiegeschäften der Ruhrkohle AG (RAG) entstanden, ist das zweitgrößte deutsche Chemieunternehmen und gehört damit zu den weltweit führenden Unternehmen der Spezialchemie. An der Börse ist das M-Dax-Unternehmen, das weltweit gut 36.000 Menschen beschäftigt, mehr als elf Milliarden Euro wert. Damit wären die Essener grundsätzlich ein Kandidat für den wichtigsten deutschen Aktienindex Dax. Dies scheitert daran, dass nur ein Teil der Aktien frei handelbar ist: Noch hält die RAG-Stiftung 64 Prozent der Anteile. Mit den Dividendeneinnahmen trägt die Stiftung seit diesem Jahr die sogenannten Ewigkeitskosten des Steinkohlenbergbaus im Ruhrgebiet.

Insa Wrede Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion