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Gesellschaft

Europa sehen und sterben!

Jagoda Marinic
31. August 2018

Viele Reisebegeisterte glauben, Europas Städte unbedingt sehen zu müssen: Historische Prachtbauten, wie in einem Geschichtsbuch. Doch dann landen viele nur in den Kulissen von Games of Thrones, wie etwa in Dubrovnik.

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Jagoda Marinic Autorin
Bild: D. Piroelle

Tourismus ist eine ganzjährige Vermarktungsparty geworden: Elektro-Festivals, Sportevents, Kreuzfahrten. Die Städte ächzen unter den Massen von Touristen. Ich beobachte diese Entwicklung seit Jahren in Kroatien. Es ist einfach, dieses Land anzupreisen: Die Natur allein, die karstigen Berge und Inseln, das klare Meer, die Vielfalt der Landschaft bei kurzen Distanzen. Tourismusmanager predigen jedoch: "Das reicht nicht! Es muss mehr passieren, sonst kommen die Gäste nicht das ganze Jahr über."

Kroatien ist jetzt hip, das hat der jüngst verstorbene weltberühmte Koch Anthony Bourdain schon 2012 klargestellt: "If you have not been here, you are an idiot!" Dieses Jahr dann der Erfolg der Fußballnationalmannschaft: Spätestens jetzt kennt die Welt den kleinen Zipfel an der Adria.

Wachstum um jeden Preis. Und das in einem Land, dessen Küste auf der einen Seite von Bergen auf der anderen Seite vom Meer eingegrenzt wird. Über fünf Millionen Übernachtungen in wenigen Monaten, die Straßen und Fähren sind übervoll. Die einen jubeln: unendliche Chancen, um Geld zu machen! Manche legal, andere erfinderisch am Fiskus vorbei.

Das liebe Geld lockt

Die Angebote sind zahlreich: Touristen müssen sich nicht mehr nur mit weißem Fisch und Blitva (die traditionelle dalmatinische Beilage aus Kartoffeln und Mangold) begnügen. Nein, inzwischen gibt es alles, von Sushi über Tapas zu Acai Bowls. Authentisch? Will keiner mehr. Reisende suchen jetzt nach dem "global-urban-feeling": Der Mensch reist, um sich überall zu fühlen wie überall.

Kroatien - Split
Split, berühmt für seinen alten Römischen Diokletian-PalastBild: Getty Images/Cover/Luis Davilla

Party? Die Insel Hvar hält sich seit Jahren als Top-Destination. Einheimische wehren sich nicht gegen den Lärm, wie etwa die Bewohner der Barceloneta in Katalonien. Auf einer einsamen Insel lebt man nun einmal vom Tourismus. Die Stadt Hvar hat dieses Jahr trotzdem die Reißleine gezogen: Picknicken auf dem Marktplatz kostet mehrere hundert Euro Strafgebühr. Grölen in der Nacht ebenso. Das Tourismusmanagement arbeitet nun daran, andere Zielgruppen als nur Feierwütige zu erreichen.

Kellner, die nachts die Drinks bringen, servieren morgens das Frühstück. Sie entschuldigen sich freundlich, wenn sie etwas vergessen: "Sorry, die Nacht war lang." Arbeitnehmerschutz? Schwierig. Personal? Regelt man über Zeitarbeitsverträge. Studierende stehen Schlange, um den Sommer über für wenig Geld an der Strandbar zu arbeiten. Die Preise? Für Einheimische unerschwinglich. Für so manchen Touristen auch.

Authentisch? Von wegen...

Split, diese stolze weiße Stadt, UNESCO- Weltkulturerbe, ist ein Museum für Touristen geworden. Man findet kaum mehr autochtones Leben. Die "Splicani", die ihre Kindheit auf den Marmorsteinen dieser Stadt verbrachten, gehen selten in die Altstadt: "Wozu? Um von Touristenmassen geschoben zu werden?" Als ich dieses Jahr in den Diokletian-Palast kam und Croatia Records, mein kleiner Lieblingsladen, geschlossen hatte, blieb mir kurz das Herz stehen. Klar, die Zeit der Plattenläden ist vorbei, tröstete ich mich. Doch es gibt immer weniger Geschäfte wie früher, was überlebt, dient dem Tourismus.

Die Läden ziehen in die Malls an den Stadträndern, meist sind es internationale Ketten. Der Tourismus verändert die europäischen Stadtzentren zunehmend so, dass sie zu Nicht-Orten werden, wie Flughäfen. Cafés, Restaurants, Shops, alles gleich, überall. Nur die Kulisse wechselt, die Namen der Städte, die auf den Souvenirs in den Gift Shops stehen. Das Leben, all das, was eine Stadt urban und authentisch macht, weicht den Reisenden, die es leicht haben sollen beim Geld ausgeben.

Kroatien Altstadt von Dubrovnik
Seit acht Staffeln verwandelt sich die Altstadt von Dubrovnik in die Stadt Königsmund aus der Serie Game of Thrones...Bild: Marko Ercegovic

Der Profit regiert, die Großen und Kleinen wittern das schnelle Geld. "Unberührt" ist das paradoxe Schlagwort des Booms. Früher gab es in den Altstädten Menschen, die nachts die streunenden Katzen fütterten. Kinder, die in ihrem Slang schrien, wenn sie Straßenfußball spielten. Der Stadtstrand war einst das Naherholungsgebiet der Einheimischen, auch der Ärmsten.

Jetzt ist alles Kulisse: Am Strand muss man eine Liege anmieten, auf der man dann, auf dem Nassschweiß vom Vorgänger, Bilder für Instagram macht - gerne mit überteuerten Cocktails in der Hand. Geheime Buchten gibt es kaum mehr, weil überall Boote anlegen; man schaut beim Schwimmen in weiße Bootsschnauzen statt auf rosafarbenen Horizont. Will man in Ruhe den Sonnenuntergang genießen, findet sich irgendein Tourist, der seine Drohne durch die Lüfte jagt, um den Ausblick zu konservieren.

Selbst unter Wasser: Touristen mit Kameras. Ganz neu dieses Jahr: Der Tourist, der keinen Handy-Stick mehr braucht, weil das Handy inzwischen fast aus seiner Hand heraus wächst. Sein Handy scannt die Umwelt für ihn, wie bei U-Booten. Er hingegen läuft stumpf geradeausblickend, weil die Kamera ja alles für ihn aufzeichnet. Vielleicht sieht er sich abends an, wo er tagsüber war.

Freizeitkulissen für die Massen

Als nächstes wird Vis, die kleine Insel vor Split, Opfer des Booms, weil Mamma Mia Teil 2 dort spielt. Die griechische Insel Skopelos, auf der Teil 1 gedreht wurde, hat ihre Seele bereits verloren. Auf der Trauminsel Brac proben Bürger derzeit den Aufstand gegen die deutsche TUI und einen einheimischen Investor, die eine Hotelanlage für drei tausend Touristen planen - das in einem Fischerdorf von kaum drei Tausend Einwohnern!

Es gab eine Zeit, da wurde in Europa gelebt, studiert, geforscht, gefischt. Es wurden Schuhe gemacht, Kleider geschneidert - und humaner Tourismus betrieben. Doch der Krakentourismus holt immer weiter aus, ohne dass die Gewinne in die Verbesserung einheimischer Infrastruktur fließen würden.

Dubrovnik Touristen Stradun
....was zusätzlich Tausende in die enge Gassen der "Perle von Adria" locktBild: picture alliance/dpa/Pixsell

Natürlich profitieren viele Einheimische. Bis sie, wie in Dubrovnik, bemerken, dass plötzlich zehntausend Menschen am Tag die kleine Perle der Adria besuchen. Gerade Dubrovnik, die Stadt der Freiheit, die einst Unabhängigkeit auf ihre Tore schrieb und jahrhundertelang Schlachten kämpfte. Im 21. Jahrhundert kam die ultimative Niederlage: Der Tourismus hat die Stadt erobert, ganz ohne Gegenwehr.

Der Geldsegen, den der Tourismus bedeutet, mutiert zu einer Heuschreckenplage, wenn man sich allein darauf einlässt, nur Freizeitkulisse für jene zu sein, die es sich leisten können. Und das Land an jene verscherbelt, die am meisten für sich selbst herausholen wollen.

Die Seele der Städte dieses Kontinents war einst die Polis. Die Stadt. Sie war gedacht als Bürgergemeinde und öffentlicher Raum. Es ist Zeit für Europa, die Einheimischen mitreden zu lassen, welchen Tourismus sie für ihre Städte und Fischerdörfer tragbar finden, wie die heimische Infrastruktur davon profitieren sollte und wie auch die Natur wieder im Mittelpunkt stehen könnte statt nur der Profit. Vor allem wird es Zeit, über ein Europa zu reden, das wieder mehr kann als Tourismus, vor allem im Süden.

Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland?". Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander. Von ihr stammt auch das Buch "Gebrauchsanweisung für Kroatien".