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Europa Hautnah

Karl Hoffmann15. Dezember 2006

Würden Sie sich in ein kleines, klappriges Boot setzen und mit ihm hunderte, ja tausende Kilometer über den Ozean fahren? Wahrscheinlich nicht, außer Sie sind lebensmüde.

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Bild: AP

Viele tausend Menschen aus Afrika tun aber genau dies – und in gewisser Weise sind sie lebensmüde; sie haben nämlich ihr Leben in Armut und Not satt. Doch die gefährliche Bootstour ist leider in den seltensten Fällen ein Ausweg. Die, die sie überleben, müssen feststellen, dass sie in den Ländern ihrer Träume nicht unbedingt willkommen sind und dass es gar nicht so einfach ist, ein neues Leben anzufangen. Karl Hoffmann hat auf Malta mit einem Mann aus Eritrea gesprochen.

* * *

Nach Meinung von Haile Mehenda ist das Meer schuld an seinem Schicksal: "Je nachdem, woher die Wellen kommen, wirst du in eine bestimmte Richtung getrieben. Nach Zypern oder nach Alexandria, nach Tunis, Sizilien oder Frankreich, nach Lampedusa oder nach Malta. Ich wollte nicht nach Malta. Aber die Wellen und der Wille Gottes trieben mich hierher."

Eigentlich war es ihm egal, wo er landete. Es ist ihm egal, seit Haile das Schlimmste passierte, was einem Mann passieren kann, nämlich als einziges Familienmitglied am Leben bleiben zu müssen: "Meine gesamte Familie wurde von den Kriegsherren ermordet. Meine Frau, meine drei Kinder, meine Mutter, meine Schwester, mein Schwager, meine Neffen. Ich habe das vergessen. Ist schon sieben Jahre her."

Keine Angst vor dem Tod

Haile verließ seine vom Bürgerkrieg verwüstete Heimat Eritrea, er floh aber nicht vor dem Tod, sondern vor seinen Erinnerungen. Wäre er unterwegs ums Leben gekommen - und oft war es beinahe so weit - dann wäre ihm auch das egal gewesen: "Ich lief erst mal weg aus Asmara Richtung Addis Abeba, dann weiter nach Khartum, dann marschierte ich 17 Tage lang zu Fuß durch die Wüste Sahara. Die Narbe an meinem Bein ist von einem Schlangebiss in der Wüste. Dann blieb ich sechs Monate in Libyen. Habe als Autowäscher gearbeitet, aber oft haben sie mich um den Lohn betrogen, manchmal klauen sie dir sogar noch dein Geld, und die Polizei macht mit. Du arbeitest den ganzen Tag, und am Ende stellen sie dich vor die Wahl: entweder du verschwindest ohne Geld oder du wirst verprügelt und zur Polizei gebracht. Also gehst du freiwillig."

Am Anfang war die Hoffnung

Als er die 1000 Dollar für die Überfahrt nach Europa beisammen hatte, setzte er sich mit 40 anderen in ein Boot und fuhr los. Ein Funken Hoffnung keimte in ihm, vielleicht doch noch ein neues Leben anfangen zu können, vielleicht in Italien oder in Deutschland. Haile hatte studiert, als Buchhalter gearbeitet. Irgendwie hätte er sich schon über Wasser halten können. Doch dann trieben ihn die Wellen nach Malta. Er kam ins Gefängnis, als Illegaler, dann als geduldeter Flüchtling in ein Heim.

Viereinhalb Jahre geht das jetzt so, und Haile hat das Gefühl, dass sein Leben endgültig verpfuscht ist: "Wir sind halbe Gefangene hier. Wir riechen die Abgase der Busse und der Lastwagen. Und manchmal riechen wir auch den Duft des Essens von reichen Leuten. Da hole ich dann tief Luft. Ich setze mich in die Nähe der Leute, die sich ein gutes Essen bestellt haben und stelle mir vor, dass ich das gleiche esse, wenn ich den Duft rieche. Ich kann mir nicht mal eine Cola leisten. In den vier Jahren, die ich hier bin, habe ich vielleicht zehnmal Cola getrunken. Ich habe kein Geld. Alle zehn Tage bekommen wir umgerechnet elf Euro zum Leben."

Sackgasse ohne Ausweg?

Haile hat oft überlegt, ob er heimlich mit einem kleinen Boot Richtung Italien abhauen soll, doch seit Malta der EU angehört, ist die kleine Insel zwischen Italien und Libyen eine Art Sackgasse für die "Boat People" geworden. "Flüchtlinge wie wir können nicht mehr nach Italien gehen, denn bevor wir ankommen, sind unsere Fingerabdrücke schon dort. Wenn sie dich in Italien erwischen, dann bist du ein Illegaler und wirst sofort und gegen deinen Willen in dein Heimatland zurückgebracht."

Krankheiten statt neuem Leben

Haile Mehenda verfällt immer mehr, psychisch und physisch. Er sieht aus als sei er über 50, dabei ist er genau 37 Jahre und 8 Monate alt. Wäre er jünger und hätte er mehr zu essen als Brot und Thunfisch, dann hätte er genug Kraft und könnte wenigstens schwarz auf dem Bau arbeiten. Weil auch das nicht geht, hat er schließlich resigniert: "Seit ich hier bin, hat sich meine Gesundheit immer mehr verschlechtert. Ich habe Probleme, die ich aber gar nicht richtig beschreiben kann. Würde ich anfangen zu reden, dann könnte ich Bände füllen. Aber was soll's, ich habe keine andere Wahl. Außer ich stürze mich ins Meer oder diese Brüstung hinunter, das sind locker drei Stockwerke, da bin ich garantiert mausetot."