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EU und Türkei haben noch viel zu tun

Bernd Riegert 30. Juni 2005

Zu groß, zu arm, zu anders: Die Türkei spaltet die Gemüter der EU. Dennoch will die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft beginnen. Bernd Riegert kommentiert.

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Bernd Riegert

Der Rahmen der EU-Kommission entspricht exakt dem, was die Staats- und Regierungschefs vor einem halben Jahr beschlossen haben: Das gemeinsame Ziel ist die volle Mitgliedschaft. Sollte es dazu nicht reichen, gibt es eine besonders enge Anbindung. Die könnte man auch "priviligierte Partnerschaft" nennen, wie sie die deutschen Christdemokraten vorschlagen, die vielleicht schon im Herbst Regierungsverantwortung und damit Sitz und Stimme im Europäischen Rat erlangen.

Bedenken gilt nicht

Die Bedenken, die seit den negativen Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden gegen einen Beitritt der Türkei geäußert wurden, hat die EU-Kommission nicht berücksichtigt. Das konnte sie auch gar nicht, denn sie ist an die Beschlüsse des Europäischen Rates gebunden. Die Staats- und Regierungschefs hatten ihren Willen, mit der Türkei am 3. Oktober 2005 die Reise zur Mitgliedschaft zu beginnen, beim Gipfeltreffen in Juni in Brüssel noch einmal einstimmig bekräftigt.

Finanzkrise verhindert schnellen Beitritt

Noch nie hatte ein Bewerber so hohe Hürden zu überwinden wie die Türkei. Sie muss die nötigen Reformen in Politik, Wirtschaft, Justiz und Gesellschaft nicht nur in Recht setzen, sondern auch deren Wirksamkeit nachweisen. Die EU kann jederzeit die Notbremse ziehen und die Verhandlungen aussetzen oder gar ganz abbrechen. Vor 2014 wird ein Beitritt nicht möglich sein, weil der Posten "Türkei" erst in der übernächsten Haushaltsperiode der EU überhaupt vorgesehen ist.

Spätestens dann wäre die heutige Bezuschussung von Landwirten in der EU hinfällig, denn würde das alte System beibehalten und es müssten Milliarden an die armen Bauern in Anatolien fließen. Um einen Beitrittsschock für die alten EU-Länder zu verhindern, sieht der Verhandlungsrahmen eine Reihe von Schutzklauseln und Ausnahmeregeln vor, die zum Beispiel die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer dauerhaft beschränken könnten. In der Türkei wird das bereits als Mitgliedschaft zweiter Klasse kritisiert.

Türkei in der Pflicht

Jetzt liegt es an der türkischen Regierung, die ausgestreckte Hand zu ergreifen und ihre Zusagen zu erfüllen. Sie muss rechtzeitig eine Ausweitung ihrer Zollunion mit allen EU-Staaten unterschreiben und damit Zypern faktisch anerkennen. Nur dann kann sie damit rechnen, dass alle 25 Staaten dem Verhandlungsrahmen vor dem 3. Oktober zustimmen. Die türkische Regierung muss dafür sorgen, dass die Besatzungstruppen aus dem Norden des EU-Mitglieds Zypern bald abgezogen werden, auch wenn das innenpolitisch äußerst heikel sein mag. Die Tatsache, dass ein Bewerberland Teile eines Mitgliedslandes militärisch okkupiert, darf nicht mehr länger hingenommen werden.

EU ebenfalls gefordert

Auch die Union muss ihre Hausaufgaben erledigen und sich ein institutionelles System zulegen, das sie auch mit 30 oder mehr Mitgliedern noch führbar und handlungsfähig hält. Mit dem Vertrag von Nizza wird das nicht gehen. Da die Verfassung vorerst gescheitert ist, sind Alternativen dringend gefragt. EU-Kommissionpräsident José Manuel Barroso hat eine ernsthafte und ehrliche Debatte über die Türkei und den Erweiterungskurs angemahnt.

Diese Mahnung kommt ein wenig spät und auch erst nach dem Druck durch die Verfassungskrise. Das Abenteuer Türkei-Aufnahme hat für die EU mit guten strategischen und politischen Gründen längst begonnen. Nun ist es Aufgabe der europäischen Führung ihre skeptischen Völker davon zu überzeugen, dass die Türkei nicht zu groß, kulturell zu verschieden und zu arm ist, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Gelingt das nicht, könnte das ganze Unterfangen an einem Referendum über den Beitrittsvertrag scheitern.