„Essen, wo es hingehört“ – die Tafeln in Deutschland
Seit 1993 sorgt in Deutschland eine Hilfsorganisation dafür, dass Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden: die Tafel. Ohne Unterstützung Zehntausender ehrenamtlicher Helfer wäre das kaum zu bewältigen.
Wer den Begriff „Tafel“ hört, stellt sich zuallererst eine Art Platte vor, die beschrieben werden kann, seltener einen großen, festlich gedeckten Esstisch. Auf diese zweite Bedeutung bezieht sich die gemeinnützige Organisation „Tafel“. Denn mehr als 940 Tafeln in Deutschland sorgen dafür, dass Menschen, die monatlich nicht genug Geld zur Verfügung haben, zumindest beim Einkauf von Lebensmitteln sparen können. Sie sammeln zum Beispiel bei Supermärkten oder Restaurants überschüssige Lebensmittel ein und geben sie kostenlos an Bedürftige ab. Mancherorts im Land werden aber auch Kleidung, Haushaltswaren oder Möbel abgegeben. Wer zu den Tafeln kommt, sind wie Jochen Brühl, der Vorsitzende des Dachverbands „Die Tafel Deutschland e. V.“, sagt:
„Das sind Menschen, die einfach zu wenig zum Leben haben. Das sind Alleinerziehende, Senioren, das sind Menschen mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge, Rentnerinnen und Rentner, Also ’n buntes Spektrum der Menschen, die in Deutschland von Armut betroffen sind.“
Die ‚Kundinnen‘ und ‚Kunden‘ der Tafeln sind Menschen, die ‚mitten unter uns leben‘, wie beispielsweise ältere Menschen, Menschen, die ohne Partner Kinder großziehen oder Menschen, die nicht ursprünglich aus Deutschland stammen. Sie bilden ein buntes Spektrum, eine Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Seit Gründung der ersten Tafel in Berlin im Jahr 1993 sind es mit den Jahren nicht weniger Bedürftige geworden, die bei den Tafeln Schlange stehen Schlange stehen redensartlich für: in einer Reihe hintereinander warten , sondern mehr, sagt Brühl:
„Es gibt 1,5 Millionen Menschen, die auf die Tafel regelmäßig angewiesen sind. Es gibt 12 bis 16 Millionen je nach Statistik, die von Armut betroffen oder bedroht sind. Also, wenn man den Statistiken glauben will, so rund zehn Prozent der Menschen kommen zu den Tafeln. Wir haben unglaubliche Ressourcen, wir sind unglaublich verschwenderisch mit Lebensmitteln, und gleichzeitig gibt’s Menschen, die darauf angewiesen sind, dass wir sie in ihrem Alltag entlasten und unterstützen.“
Das sind Zahlen, die ein trauriges Licht werfen auf die wachsende Kluft Kluft (f., nur Singular) hier: ein Gegensatz, der sehr groß ist zwischen Arm und Reich in Deutschland. Eigentlich ist es ein wohlhabendes Land, hat unglaublich viele Ressourcen, geht damit aber verschwenderisch um. Nach Angaben des Bundeszentrums für Ernährung landen in Deutschland jährlich elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, bei der Erzeugung und Verarbeitung, bei Großverbrauchern Großverbraucher, - (m.) eine Stelle/Institution, die Waren in größeren Mengen benötigt (z. B. Kantine, Gastronomiebetrieb) , im Handel und in Privathaushalten. Nicht umsonst wählte die Organisation das Motto „Essen, wo es hingehört“. Nämlich zu denjenigen, die von Armut betroffen oder bedroht sind. Und deren Zahl wächst, was Jochen Brühl mit Sorge sieht:
„Ich glaube, dieses Thema ‚Armut in Deutschland‘, das ist politischer und gesellschaftlicher Sprengstoff. Und da muss man einfach gut hingucken, gut aufpassen.“
Das Ungleichgewicht sieht Jochen Brühl als Sprengstoff, als eine Situation, die die Gesellschaft zerstören könnte. Nicht nur der Staat ist seiner Ansicht nach gefordert, etwas dagegen zu tun, indem er beispielsweise die Grundsicherung für Berechtigte, das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich Hartz IV, erhöht. Auch die Gesellschaft sei gefragt. Denn im Prinzip kenne jeder jemanden, der zur Tafel geht. Er fordert daher:
„Seit 25 Jahren weisen wir nicht nur darauf hin, dass es Lebensmittelüberschüsse gibt, sondern wir sagen auch, es gibt ausgegrenzte Menschen. Die Gesellschaft darf nicht nach außen rücken, sondern wir müssen die Menschen, die außen sind, wieder in die Mitte der Gesellschaft holen. Das ist die Aufgabe, und wir brauchen endlich auch wieder so ’n Ruck, dass wir uns aus dieser Lethargie, die uns gerade so ’n bisschen erfasst, wieder herausbewegen, damit wir merken, dass wir in einer tollen Gesellschaft eigentlich leben.“
In seiner historischen Rede rief der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 dazu auf, durch Deutschland müsse ein Ruck gehen, Staat und Gesellschaft müssten etwas tun, und zwar gegen eine Lähmung, eine Lethargie, die herrsche. Mehr als zwanzig Jahre später macht Jochen Brühl ein ähnliches Gefühl aus wie damals. Sein Plädoyer Plädoyer, -s (n.) hier: eine Äußerung, mit der jemand eine Position deutlich unterstützt lautet, aktiv zu werden und sich eine Frage zu stellen:
„Ich glaube, wichtig ist, dass die Gesellschaft sich hinterfragt, wofür brauchen wir eigentlich Tafeln, warum haben wir die eigentlich, warum gibt’s da eigentlich ’n Problem, und ist es nicht eigentlich die Aufgabe von Gesellschaft und Politik, dafür zu sorgen, dass es Tafeln nicht mehr braucht – und dafür werden wir weiter antreten.“
Denn ohne die etwa 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer wäre eine Institution wie die Tafel gar nicht möglich. Ob Pensionäre, Schüler, Hausfrauen und Hausmänner, Arbeitende oder Arbeitslose: Sie alle haben 24 Millionen Arbeitsstunden geleistet und gespendete Lebensmittel an Bedürftige weitergegeben. Eine längere Lebensarbeitszeit und Ausbildungen, in denen wenig freie Zeit übrig bleibt, stellen nach Ansicht von Jochen Brühl eine Gefahr auch für die ehrenamtliche Hilfe bei den Tafeln dar:
„Tafel-Ehrenamtliche bringen pro Jahr einen Wert von 216 Millionen Euro. Das muss man sich mal gut überlegen, was das heißt, wenn das wegfallen würde. Ich glaube, der Staat tut gut daran, das Ehrenamt wertzuschätzen und auch zu unterstützen.“
Ehrenamtliche leisten Arbeit, die laut Jochen Brühl in Geld umgerechnet 216 Millionen Euro beträgt, sie bringen einen Wert in dieser Höhe. Jochen Brühl fordert daher, die Zeit eines ehrenamtlichen Engagements einer Person bei der späteren Berechnung der Rente anzurechnen etwas an|rechnen dafür sorgen, dass eine erbrachte Leistung oder Zeitdauer berücksichtigt wird . Mithilfe einer Petition Petition, -en (f.) hier: ein Schreiben an die Regierung mit einer Forderung, die viele Menschen mit ihrer Unterschrift unterstützen an das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales sollte dieser Forderung noch Nachdruck verliehen werden. Ehrenamtliches Engagement wird sicher weiter gefragt sein – wahrscheinlich auch bei den Tafeln. Obwohl bei den Tafel-Verantwortlichen natürlich die Hoffnung besteht, irgendwann nicht mehr notwendig zu sein.
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*Unter Verwendung eines Radiobeitrags von Thomas Rautenberg (RBB) sowie eines Telefoninterviews (https://bit.ly/2OIEy06) von Helmut Rehmsen (WDR) mit Jochen Brühl
„Essen, wo es hingehört“ – die Tafeln in Deutschland
Schlange stehen — redensartlich für: in einer Reihe hintereinander warten
Kluft (f., nur Singular) — hier: ein Gegensatz, der sehr groß ist
Großverbraucher, - (m.) — eine Stelle/Institution, die Waren in größeren Mengen benötigt (z. B. Kantine, Gastronomiebetrieb)
Plädoyer, -s (n.) — hier: eine Äußerung, mit der jemand eine Position deutlich unterstützt
etwas an|rechnen — dafür sorgen, dass eine erbrachte Leistung oder Zeitdauer berücksichtigt wird
Petition, -en (f.) — hier: ein Schreiben an die Regierung mit einer Forderung, die viele Menschen mit ihrer Unterschrift unterstützen