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Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung

Felix Schlagwein
27. Januar 2019

"Ich bin mit dem Wissen um den Holocaust aufgewachsen. Doch zeigt der Blick in die Gegenwart: Wir müssen noch mehr darüber reden! Damit sich das Rad der Geschichte nicht rückwärts dreht", sagt DW-Autor Felix Schlagwein.

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Gedenkstätte Konzentrationslager Stutthof
Bild: Getty Images/B. Adams

"Damals waren es die Juden…Heute sind es dort die Schwarzen, hier die Studenten… Morgen werden es vielleicht die Weißen, die Christen oder die Beamten sein…", stand im Vorwort des Romans "Damals war es Friedrich" von Hans Peter Richter. Wir lasen das Buch Mitte der Nuller Jahre im Deutschunterricht der 6. Klasse - meine erste Berührung mit der Geschichte der Judenverfolgung in Deutschland.

"Die Beamten?", fragte ich mich als damals Elfjähriger reflexartig - und begriff im selben Augenblick die Botschaft dieser Zeilen. Von da an ließ mich die Geschichte der NS-Zeit und des Holocaust nicht mehr los. Sie begleitete mich durch die ganze Schulzeit - ob im Geschichtsunterricht, in Deutsch, Englisch oder Französisch: Wir schauten "Schindlers Liste" oder auch "Das Leben ist schön". Wir sahen Theaterstücke, besuchten Museen, Bildungs- und Gedenkstätten. Sogar beim Abendessen am Küchentisch konnte der Holocaust Thema sein. Nachts flimmerten die Dokus und Spielfilme über den Fernsehschirm.

Filmstill aus der oscarprämierten Tragikomödie "Das Leben ist schön"
Filmstill aus der oscarprämierten Tragikomödie "Das Leben ist schön"Bild: picture-alliance/dpa/Cecchi Gori Group

Ein Land stellt sich seiner Geschichte - so habe ich es als Heranwachsender erlebt. In der Generation meiner Großeltern hingegen? Da herrschte Schweigen. In Gerichten, Ministerien, in Klassenräumen und Hörsälen, zu Hause auf der Couch - überall gab es noch Nazis, die den Ton angaben. Erst die 68er fingen an zu hinterfragen: "Was ist damals geschehen?"

Der Holocaust ist Teil deutscher Identität

Ich aber bin mit dem Wissen um die Nazi-Diktatur und den Holocaust aufgewachsen. Es ist Teil meiner Identität. Für mich ist es Teil deutscher Identität, auch wenn viele das heute nicht mehr wahrhaben wollen. Auch mir erscheinen die Bilder und Berichte aus der Nazizeit surreal, geradezu unecht. Und wie erst sollte sich das alles wiederholen?

Und doch ist es möglich. Die Gefahr zu unterschätzen, wäre naiv, sogar brandgefährlich. Denn Systeme können sich ändern. Oft geschieht das schleichend, so dass man es kaum merkt - bis es zu spät ist. Das muss auch meiner Generation bewusst sein, die nichts kennt außer den Frieden. Denn auch nach 1945 hat es wieder Krieg in Europa gegeben. Auch nach 1945 haben wieder Völkermorde stattgefunden: Ob in Ruanda, Kambodscha, Myanmar oder in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf dem Balkan. Wer kann sicher sein, dass es nicht auch in Deutschland wieder passiert?

Menschen auf der Flucht vor Verfolgung. Konflikt in Kachin, Nordmyanmar
Myanmar 2018 - Menschen auf der Flucht vor VerfolgungBild: AFP/Getty Images/Z. R. Hpra

Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung

Damit sich das Rad der Geschichte nicht rückwärts dreht, braucht es Bildung. Deutschland hat seine faschistische Vergangenheit aufgearbeitet - im Gegensatz etwa zu Italien oder Japan. Aber die Warnzeichen sind nicht mehr zu übersehen: Polizisten müssen Synagogen und andere jüdische Einrichtungen beschützen. Antisemitische und rassistische Straftaten nehmen zu. Im Bundestag wie in allen 16 Landtagen sitzt eine Partei, deren führende Köpfe die zwölfjährige Nazi-Diktatur als einen "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte bezeichnen und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als "Denkmal der Schande" diffamieren.

Alexander Gauland
AfD-Chef Alexander Gauland: Nazi-Diktatur ein "Vogelschiss" in der deutschen GeschichteBild: picture-alliance/dpa/M. Skolimowska

Viele Rechte wettern gegen eine historische "Schuld" der Deutschen. Dabei geht es gar nicht um Schuld. Bin ich oder sind die jungen Menschen meiner Generation "schuld" an den Taten unserer Urgroßväter- und mütter? Wohl kaum.

Trotzdem tragen wir Verantwortung dafür, dass sich das dunkelste Kapitel unserer Geschichte nicht wiederholt. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat es am 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestag des Kriegsendes, so ausgedrückt: "Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren." Er hatte Recht.

Schulklassen sollten Konzentrationslager besuchen

Schon bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Was uns bleibt, sind ihre Stimmen, ihre Bücher und Briefe. Doch die Emotionen drohen zu verblassen. Ein Jahr vor meinem Abitur besuchte meine Klasse die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Ich stand mit den eigenen Füßen auf dem Boden der Gaskammern, sah mit eigenen Augen die Berge von Schuhen, Haaren und Koffern der ermordeten Männer, Frauen und Kinder. Die Eindrücke haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt: "Nie wieder Auschwitz!"

Eingangstor und Schienen zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Eingangstor und Schienen zum Vernichtungslager Auschwitz-BirkenauBild: Alex Pantcykov/dpa/Sputnik/picture-alliance

Womöglich wirkt der Besuch einer KZ-Gedenkstätte effektiver als jeder Geschichtsunterricht, jedes Schulbuch oder jeder Spielfilm. Aus der ganzen Welt kommen Menschen zu uns. Der Holocaust mag nicht Teil ihrer Geschichte sein. Dennoch finde ich: Wer in Deutschland lebt, sollte sich damit auseinandersetzen wie alle anderen auch. Denn die Geschichte von Nazi-Diktatur und Holocaust ist Menschheitsgeschichte. Sie lehrt, zu welchen Taten Menschen unter bestimmten Umständen fähig sind. Und diese Erkenntnis geht jeden an.