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"Erkenne dich selbst!"

Das Gespräch führte Thomas Bärthlein30. Oktober 2002

Auf dem glatten diplomatischen Parkett kommen auch Profis leicht ins Straucheln. Jüngstes Beispiel ist der USA-Irak-Konflikt. Wo ist die Grenze zwischen legitimer Kritik an der US-Politik und "Anti-Amerikanismus"?

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Rückkehr zu alter Herzlichkeit?<br>Außenminister Fischer und PowellBild: AP

Der Historiker Dan Diner, der in Jerusalem und Leipzig lehrt, befasst sich seit Jahren mit der Frage, wieviel Kritik an den USA legitim ist und wie sich das "Feindbild Amerika" aufbaut. DW-RADIO-Redakteur Thomas Bärthlein hat sich mit ihm darüber unterhalten.

Kritik mit langer Tradition

Der Anti-Amerikanismus sei in vielem dem Anti-Semitismus ähnlich, erläutert Diner. Er sei keine geschlossene Weltanschauung, sondern eine Ansammlung von Klischees. Anti-Amerikanismus bedeute oft auch, "mit der Wahrheit zu lügen" - und das mache die Abgrenzung von zuweilen berechtigter Kritik an den USA so kompliziert:

"Es wird oft sehr schwer zu unterscheiden sein, wenn man keinen Begriff oder keine rechte Vorstellung von dem hat, was Anti-Amerikanismus bedeutet. Das ist nichts unbedingt Aktuelles, das ist eine historische Figur, die sich aus der frühen Neuzeit, aus dem 16., 17. Jahrhundert relativ kontinuierlich bis in die Gegenwart verlängert. Und das hat im wesentlichen damit zu tun, dass Amerika als ein 'Land der Zukunft' begriffen wird, dessen Moderne die Traditionsgesellschaften, zu denen auch Europa gehört, bedroht."

Europa will nicht "modern" sein

Auf die radikale Herausforderung durch die Moderne reagierten die Europäer, indem sie alles "Moderne" an Amerika verteufelten. Das gelte, argumentiert Diner, zum Beispiel auch für aktuelle Debatten um die Kriegsführung der Vereinigten Staaten - wie in Jugoslawien oder Afghanistan:

"Es geht um bestimmte Bilder von Amerika, die natürlich mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung stehen, mit der Bombardierung der Städte. Die amerikanische Kriegsführung, die sozusagen Masse und Material einsetzt gegen taktisches Vermögen. Ähnliches konnte man etwa Mitte des 19. Jahrhunderts in der Presse lesen, als über den amerikanischen Bürgerkrieg berichtet wurde - in dem bereits Massenheere in Stellung gebracht wurden, das Maschinengewehr erfunden wurde, um die Tötung zu automatisieren, und und und ... Das entspricht ja nicht dem europäischen, in hohem Maße von der höfischen Gesellschaft und der bürgerlichen Kultur geprägten Bewusstsein!"

Bis in die Wortwahl hinein lassen sich so Kontinuitäten bei den Amerika-Gegnern über die Jahrhunderte aufzeigen. Die andere Seite ist, dass auch viele Nicht-Amerikaner die Vereinigten Staaten als "Land der Zukunft" bewundern.

Standesdünkel und Reformstau

Der Anti-Amerikanismus sei in erster Linie bei den gesellschaftlichen Eliten zu finden, erklärt Diner. Taxifahrer, Dienstmädchen und Arbeiter hätten kein Problem damit. Vielmehr hätten die Intellektuellen, die Theaterleute und die Professoren den "anti-amerikanischen Dünkel".

Diese herablassende Einstellung zu den USA mache auch die Kommunikation zwischen Amerikanern und Europäern so schwierig, glaubt Diner. Amerikanische Intellektuelle dagegen könnten die Europäer leichter verstehen. Die aktuelle Zuspitzung anti-amerikanischer Ressentiments weltweit, vor allem in der islamischen Welt, führt Diner nicht auf die amerikanische Nahost-Politik oder die Wirtschaftsmacht der USA zurück. Entscheidender sei die Zeitenwende des Jahres 1989 gewesen:

"Die Sowjetunion war so etwas wie eine Knautschfläche zwischen den Traditionsgesellschaften im Orient und der Hypermoderne des Westens. Die gibt es nicht mehr. Und plötzlich steht sozusagen die Hypermoderne einigen Gesellschaften gegenüber, die keine Renaissance, keine Reformation, keine Säkularisierung in der Analogie zur europäischen Entwicklung erfahren haben. Und das löst eine massive narzisstische Kränkung aus."

Letzten Endes, so Diner, liege hier die Ursache für die Anschläge vom 11. September - die er nicht als sozialen Protest gegen die Globalisierung interpretiert, sondern als eine Art "sakralen Akt", der die Überlegenheit des Islam gegenüber der westlichen Moderne ausdrücken wollte.

Jeder kehre vor seiner eigenen Haustür .,,

Die Verantwortung für die Konfrontation zweier Welten könne man aber nicht der erfolgreichen "Welt der Zukunft" - also Amerika - anlasten. Vielmehr lasse sich die Kränkung der Schwächeren nur durch deren Entwicklung überwinden:

"Und ich würde meinen, dass es die Aufgabe der Intellektuellen in diesen Ländern wäre zu fragen: Wie kommt es, das wir in dieser Lage sind? Es kann nicht nur so sein, dass man dem Kolonialismus und dem Imperialismus und was auch immer - also immer sozusagen den anderen und äußeren Faktoren - die Schuld an dem gibt, worunter man leidet!"

Die Gefahr ist in der Tat gegeben, dass man Amerika zu einer Projektionsfläche für alle möglichen Schwierigkeiten mit der Moderne und der Globalisierung macht. Allerdings: Ob Dan Diners Überzeugung, Amerika sei kein Land wie jedes andere, sondern schlicht die "Welt der Zukunft", mehr ist als ebenfalls eine "Projektion" - darüber müssen zukünftige Historiker befinden.