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Elbhochwasser in Wittenberge

Alexander Drechsel, z. Zt. in Wittenberge11. Juni 2013

Der Gegensatz könnte kaum größer sein: Die Sonne strahlt, während die Elbe über ihre Ufer tritt. Doch ohne diesen scheinbaren Widerspruch gäbe es wohl keine so große Hilfsbereitschaft beim Kampf gegen die Flut.

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Freiwillige befüllen Sandsäcke in Wittenberge (Foto: Alexander Drechsel/DW)
Bild: DW/A.Drechsel

Schon die Morgensonne macht klar: Es wird ein schöner frühsommerlicher Tag in Wittenberge im Norden Brandenburgs. Das beschauliche Städtchen mit seinen etwa 17.000 Einwohnern wirbt damit, dass es das Tor zur Elbtalaue sei. Auf den Kopfsteinpflasterstraßen reihen sich Altstadthäuser an Plattenbauten - auf den ersten Blick ein normaler Morgen in Wittenberge.

Doch im einsetzenden Berufsverkehr fahren auffallend viele Fahrzeuge von Feuerwehr, Polizei und Technischem Hilfswerk auf. An manchen Fassaden stapeln sich Sandsäcke, und je näher die Häuser an der Elbe liegen, desto mehr Sandsäcke sind es. Die Polizei hat alle Straßen zum Fluss abgesperrt. Einzig die Zufahrt zur "Ölmühle", einem ehemaligen Industriegelände, darf befahren werden. Die Straße muss auch frei bleiben, denn auf dem Gelände befüllen unzählige Helfer Sandsäcke. Allein gestern waren es in ganz Wittenberge 165.000 Säcke, heute sollen es 140.000 werden.

Elbe bricht alle Rekorde

"Wir koordinieren hier die Befüllung von Sandsäcken und die Abfahrt der gefüllten Sandsäcke auf Paletten dorthin, wo sie gebraucht werden", erläutert der Platzverantwortliche Rainer Wöhlert. Obwohl der Wasserstand der Elbe nach einem neuen Rekord von mehr als 7,70 Metern langsam fällt, gibt es keine Entwarnung. "Das Wasser steht noch lange an den Deichen", sagt Wöhlert, "also müssen wir hier weiter Sandsäcke befüllen, um irgendwelche Schadstellen rechtzeitig und schnell abdichten zu können."

Also rammen die Menschen weiterhin etwa 50 Zentimeter lange, abgesägte Abwasserrohre in die Sandhaufen an der Öhlmühle. Auf diese Weise lasse sich ein Sandsack viel schneller befüllen als mit einer Schaufel, erläutert ein Helfer den Einsatz des ungewöhnlichen Werkzeugs. "Die Säcke wiegen etwa 25 Kilo", sagt der grauhaarige Mann weiter, während er einen Sack aufhält und ein zweiter Helfer den Sand aus dem Rohr hineinkippt. Wenn der Sack sich am Deich dann voller Wasser sauge, kämen auch mal 50 Kilogramm auf die Waage, rechnen beide vor.

Schwerarbeit bei Sommerwärme

Stundenlang füllen die Menschen Säcke und stapeln sie auf Paletten - körperliche Schwerarbeit. Jetzt am frühen Morgen sind die Temperaturen noch angenehm, später am Tag brennt die Sonne unerbittlich auf das Gelände, das kaum Schatten bietet.

Sandsackbefüllung mit Abwasserrohr (Foto: Alexander Drechsel/DW)
Not macht erfinderisch: Freiwillige befüllen Sandsäcke mit einem AbwasserrohrBild: DW/A.Drechsel

Dennoch kommen von überall her Freiwillige, die hier mit anpacken wollen, um die Stadt vor der Flutwelle zu schützen. Sogar Schulklassen werden mit Bussen zur Ölmühle gefahren. Neben Lastern des Technischen Hilfswerks sind auch Transporter im Einsatz, die von Privatfirmen geschickt wurden, um die Sandsäcke an die Deiche zu bringen. Dort hinfahren aber dürfen nur professionelle Helfer - zu groß ist die Gefahr, dass Laien beim Dammbruch in Panik geraten und sich in Gefahr bringen. Auch die Deichläufer, die ständig den Zustand der Schutzanlagen kontrollieren, müssen Profis sein. Sie entscheiden, wohin die Sandsäcke von der Ölmühle aus transportiert werden.

Hochwasserstab hält die Fäden zusammen

Sand und Säcke beschaffen, das Befüllen, der Abtransport und die Entscheidung, wohin die Sandsäcke gebracht werden, das koordiniert der Hochwasserstab. In Wittenberge hat er bei der Freiwilligen Feuerwehr Quartier bezogen. Am Montag (10.06.2013) hatte Kanzlerin Angela Merkel dort die Einsatzzentrale besucht.

Sandsäcke an der Wittenberger Ölmühle (Foto: Alexander Drechsel/DW)
Abfüllstation Ölmühle: Täglich über 100.000 SandsäckeBild: DW/A.Drechsel

Kampf gegen das Hochwasser entlang der Elbe

Der Stab sitzt im ersten Stock des Feuerwehrgebäudes. Eine Treppe, die in den vergangenen Tagen unübersehbar hundertfach mit schweren Stiefeln bestiegen wurde, führt in einen kleinen Flur. Zwei Frauen sitzen an einem Glastisch und beantworten Fragen am ununterbrochen klingelnden Bürgertelefon. Rechts gehen die Räume der provisorisch eingerichteten "Meldestelle Deichläufer" und der "technischen Einsatzzentrale Feuerwehr" ab. Vor der Küche liegen auf einem weiteren Tisch im Flur vier Lunchpakete, die noch keine Abnehmer gefunden haben. Überall klingeln Telefone und krächzen Funkgeräte. Trotz der Betriebsamkeit sind die Menschen freundlich und grüßen einander.

U-Boot-Fahrer als Fluthelfer

Auch in der Einsatzzentrale melden sich freiwillige Helfer. Einer von ihnen ist Stephan Pfeiffer. Er ist Korvettenkapitän bei der Deutschen Marine und Kommandant einer U-Boot-Besatzung. "Unser U-Boot U31 hat mit der Stadt Wittenberge eine Patenschaft. Da helfen wir natürlich in Notlagen. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit", sagt er. Pfeiffer ist mit 15 Mann von Eckernförde an der Ostsee ins Binnenland nach Brandenburg gekommen. Nach vier Stunden Fahrt hätten die Marinesoldaten nahtlos die ganze Nacht weitergearbeitet. "Wir haben von der Bundeswehr Ausrüstung und zwei Lkws mitbekommen. Damit transportieren wir Sandsäcke an die Deiche und laden sie dort ab zur Deichverstärkung." Pfeiffer rechnet damit, dass er und seine Kameraden noch eine Woche hier mit anpacken werden. Es ist die Höhe und die Dauer der Flut, die einen langen Einsatz wahrscheinlich machen.

Oliver Hermann, Bürgermeister von Wittenberge (Foto: Alexander Drechsel/DW)
Von der Hilfsbereitschaft überrascht: Bürgermeister Oliver HermannBild: DW/A.Drechsel

Genau diese beiden Faktoren bereiten Wittenbergs Bürgermeister Oliver Hermann Sorgen. Er sitzt im Schulungsraum im ersten Stock der Feuerwehr, wo für Wittenberge alle Fäden beim Hochwasserstab zusammenlaufen. Der Pegelstand des "Jahrhunderthochwassers" von 2002 sei dieses Mal um mehr als einen halben Meter übertroffen worden, sagt Hermann. "Jetzt kommt alles darauf an, dass es möglichst nicht zu lange dauert. Weil das dann sehr lange auf die Deiche drückt. Und es kommt darauf an, dass die sogenannte Deichverteidigung sofort reagiert, wenn sich irgendwo Schwachstellen zeigen."

Flut überraschte beim Deichausbau

Zwar sei der Zustand der Deiche im Großen und Ganzen gut, es gebe aber Schwachstellen, räumt Hermann ein. Die Stadt sei gemeinsam mit dem Bundesland dabei gewesen, die Deiche auf 7,99 Meter zu erhöhen. "Mitten in diesem Bauen hat uns dieses Hochwasser überrascht, so dass mit einer großen Kraftanstrengung ein provisorischer Deich gebaut werden musste." Sollte dieser Deich brechen, sagt der Bürgermeister, wäre nicht nur die Altstadt überflutet. Das Wasser würde wahrscheinlich zunächst um die Stadt herum fließen, aber dann in tieferes Gelände kommen und Wittenberge eventuell quasi von hinten überfluten. Deshalb sei es wichtig, dass auch alle mit anpacken.

"Wir sind von der Hilfsbereitschaft freudig überrascht", so Hermann weiter. Bei vergangenen Hochwassern sei es schwierig gewesen, die Menschen zu mobilisieren, weil es Winter war. "Das ist diesmal komplett anders." Er macht dafür das Wetter verantwortlich. Regen wäre nun das größte Problem, weil dann viele Helfer zu Hause blieben, ist er überzeugt. Und so freut sich Wittenbergs Bürgermeister über das frühsommerliche Wetter im Norden Brandenburgs und hofft, dass es auch in den kommenden Tagen so bleibt.