1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Neue Ideen für moderne Gesellschaften

Elizabeth Grenier jhi
22. November 2017

Ein neues Debattenformat kommt nach Berlin: Die "6 Degrees Talks", initiiert von Adrienne Clarkson und John Ralston Saul, wollen eine globale Debatte über Staatsbürgerschaft und Vielfalt anregen. Gegen den Populismus.

https://p.dw.com/p/2o2jt
Toronto 6 Degrees Citizen Space 2017
Adrienne ClarksonBild: 6 Degrees/ICC

Federführend sind zwei Kanadier: die frühere Generalgouverneurin Adrienne Clarkson und der Schriftsteller John Ralston Saul. Das Ehepaar ist Mitbegründer des "Institute for Candian Citizenship", das in Kanada die Inklusion von neuen Staatsbürgern und ihre aktive Teilnahme am politischen Leben fördert. Die staatliche Wohltätigkeitsorganisation richtet die Gesprächsreihe "6 Degrees Citizen Space" aus, die über neue Formen von Staatsbürgerschaft in der globalisierten, kulturell diversen Welt diskutiert. Gesprächsteilnehmer war unter anderem der Künstler Ai Wei Wei.

Nun soll das Format in Europa fest etabliert werden: Eine Gesprächsrunde in Den Haag hat bereits im Frühling 2017 stattgefunden, im Mai 2018 soll nun Berlin folgen. Die DW hat sich mit den Machern in Berlin getroffen.

Deutsche Welle: Warum haben Sie das "Institute for Canadian Citizenship" gegründet?

John Ralston Saul: Wir gründeten das Institut vor nunmehr zwölf Jahren, weil es zwar alle möglichen Hilfsorganisationen gab für Flüchtlinge und Immigranten, aber keine einzige für neue Staatsbürger. Es gab diese komische Annahme, dass ein Migrant mit dem Tag der Einbürgerungszeremonie automatisch zu einem aktiven Bürger würde. Und das stimmt auch für einige. Doch viele wissen nicht, was sie dafür tun können. Wir wollten eine Institution schaffen, die bürgernahe Programme im ganzen Land kreiert, die Menschen zum Mitmachen anregen.

Toronto 6 Degrees Citizen Space 2017
Der Philosoph und Schriftsteller John Ralston Saul war von 2009 bis 2015 Präsident von PEN InternationalBild: 6 Degrees/ICC

Zu ihrem Projekt gehören auch die "6 Degrees Citizen Space", worum geht es dabei?

Saul: Das ist ein dreitägiger Event, der jedes Jahr im September in Toronto stattfindet: 5000 Menschen aus 25 Ländern sind da, eine ganz wilde Mischung. Das sind nicht ein Haufen Politiker oder Sozialwissenschaftlicher, die miteinander reden. Wir haben Schriftsteller und Künstler, die teilnehmen. Und ungefähr die Hälfte der Teilnehmer sind Menschen unter dreißig.

Adrienne Clarkson: Ausgehend und inspiriert von unseren Erfahrungen mit unseren Programmen, die Menschen helfen, Bürger zu werden, war es Zeit für uns, mehr Austausch anzuregen. Viele fanden, dass das nicht nur etwas für Kanada sei - und so brachten wir unsere Diskussionsveranstaltungen auch ins Ausland: 2016 wurden wir nach Den Haag eingeladen. Das war eine Ein-Tages-Version und wurde ein großer Erfolg. 

Deutschland ist nun unser nächster Partner für das nächste "6 Degrees". Das Land war unter großem Druck wegen der vermehrten Einwanderung - und hat das relativ gut gemeistert, wenn man bedenkt, dass es eine Zuwanderung in diesem Ausmaß so hier noch nicht gab.

Warum ist eine solche Veranstaltung gerade jetzt wichtig?

Saul: Es ist deutlich geworden, dass das Narrativ um Immigration und Staatsbürgerschaft im Westen so nicht mehr funktioniert. Menschen, die Angst verbreiten, haben die Kontrolle übernommen. Deshalb brauchen wir dringend eine neue Sichtweise. Das kann man nicht alleine entwickeln. Da müssen eine ganze Menge Menschen aus verschiedenen Ländern und Sprachräumen zusammenarbeiten, um eine neue Vision zu schaffen.

Toronto 6 Degrees Citizen Space 2017
Ai Weiwei und Adrienne ClarksonBild: 6 Degrees/ICC

Was macht das Institut ganz konkret?

Saul: Eines unserer Programme versucht zum Beispiel herauszufinden, welche Projekte in den verschiedenen Länder funktioniert haben, wie ihre Erfahrungen waren. Auch wir haben einige Erfolgsgeschichten zu erzählen. Eine ist unsere "Kulturkarte", der "Cultural Access Pass" - die Idee dazu haben wir entwickelt und umgesetzt. Am Tag der Einbürgerung kann sich der Neu-Bürger online registrieren und so freien Zugang zu etwa 14.000 Kulturinstitutionen bekommen - für sich uns die Familie.

Wir gehen davon aus, dass es zentral ist, an der Kultur teilzuhaben, um auch zum engagierten Bürger zu werden. Man kann nicht Teil einer Kultur werden, ohne sie im Kern verstanden zu haben. Diese Idee könnte man auch exportieren - das wäre auch eine Idee für Deutschland. Und es gibt vieles, was wir von den deutschen Versuchen und Erfahrungen lernen können. Was die Anerkennung der beruflichen Qualifikation angeht, wird in Deutschland zum Beispiel viel Interessantes ausprobiert, da ist das Land ganz weit vorne.

In der Projektbeschreibung von "6 Degrees" steht der Satz: "Zu viel Energie wird verloren, wenn man in den Konventionen verharrt." Inwiefern ist das Format "6 Degrees" unkonventionell?

Clarkson: Ich denke, es ist unkonventionell, weil es keine Hierarchien reproduziert. Obwohl wir berühmte Leute dabei haben, wie etwa Margaret Atwood oder Bernhard Schlink. Auch Maler oder Musiker sind dabei. Aber man trifft sich auf Augenhöhe. Das ist eine sehr ermächtigende Erfahrung. Die Ideen der Menschen werden ernstgenommen und angehört. Es ist nicht ein "Was hast du als 17-Jähriger denn dazu zu sagen?", sondern es ist: "Was denkst du?" Und die Resultate sind sehr interessant.

Toronto 6 Degrees Citizen Space 2017
Bild: 6 Degrees/ICC

Saul: Auch die Umsetzung ist unkonventionell. Die Diskutanten sind kreisförmig angeordnet, auf einem leicht erhöhten ovalen Podium. Etwa 350 Diskussionsteilnehmer sitzen darum herum. Man sitzt nicht vor einer Wand, sondern man ist umgeben vom Publikum. Es gibt keine Eingangsstatements, wir steigen mitten in die Diskussion ein, von der ersten Minute an. Wir bereiten uns mit den Teilnehmern sehr gut vor, so dass wir unmittelbar ins Gespräch kommen, als wäre man bei einem gemeinsamen Abendessen. Daraus entstehen überraschende Gesprächsverläufe, in denen jeder die Komfortzone verlassen muss - daraus entstehen unerwartete Ideen.

Deutschland wurde ausgewählt, weil es in den letzten zwei Jahren einen eigenen Weg gefunden hat, mit einer großen Zahl von Geflüchteten umzugehen. Aktuell aber ist eine Rechtsaußen-Partei auf dem Vormarsch und die gescheiterten Koalitionsverhandlungen sorgen für große Unsicherheit: Wie sehen Sie die jüngsten Entwicklungen?

Saul: Wir erleben, dass der Konsens und die Gewissheiten, auf deren Grundlage Gesellschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs funktioniert haben, zusammenbrechen. Man hat noch nicht annähernd verstanden, wie tiefgehend und ernst diese Entwicklung ist. Man redet über den wachsenden Populismus und die Rückkehr von Rassismus und rechtsextremen Parteien, als wären das komplett überraschende Phänomene. Viele von uns schreiben aber seit mehr als 15 Jahren darüber. Man konnte es kommen sehen, weil man sehen konnte, dass die bestehenden Systeme zusammenbrechen.

Von oben war das nicht sichtbar, da war alles so schön eingebettet in Gewohnheiten und etablierte politische Konventionen. Die Menschen haben nicht verstanden, dass das, was schief läuft, keine Kleinigkeiten waren, sondern das große Ganze. Eine seit 75 Jahren vorherrschende Art, die Welt zu sehen, kommt an ihr Ende. "6 Degrees" will gemeinsam mit den Menschen die alten Narrative neu denken - mit Menschen, die dieser Entwicklung nicht mit Angst begegnen. Diese Menschen werden eine neue Koalition bilden, eine Koalition des Anstands. Aber sie müssen erst herausfinden, wie das zu schaffen ist. Das wird wirklich harte Arbeit. "6 Degrees" will für diese Arbeit ein Forum schaffen.

Das Gespräch führte Elizabeth Grenier.