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Ein Spiel und seine Mythen

Zakhar Butyrskyi8. August 2012

Mitten im zweiten Weltkrieg kommt es in Kiew zu einem besonderen Fußballspiel: Deutsche Besatzer gegen ukrainische Besetzte. Die Heimelf holte den Sieg – um den sich viele Legenden ranken.

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Filmszene des Films "Match": Zwei Mannschaften vor einer Hakenkreuzwand (Foto:Central Partnership, Inter-Film/AP/dapd)
Bild: dapd

Am 9. August 1942 ist Kiew eine besetzt Stadt. Die anfängliche Freude vieler Ukrainer über die Befreiung vom Sowjetkommunismus verfliegt schnell, denn die neuen Besatzer gehen zum Teil grausam vor. Es kommt vor den Toren der Stadt zu Massenerschießungen, die Menschen hungern und werden schikaniert. Inmitten dieses blutigen Sommers wird ein Fußballspiel angepfiffen. Eine Auswahl der deutschen Wehrmacht trifft auf eine Elf aus ukrainischen Zwangsarbeitern, die es wagt, zu gewinnen. Einige Spieler stammen aus den Vereinen Dynamo Kiew und FC Lokomotive Kiew und werden wenige Tage nach dem Spiel verhaftet. Vier Spieler wurden später im Konzentrationslager umgebracht, wie aus Aufzeichnungen hervorgeht.

Die sowjetische Kriegspropaganda prägte danach die Legende des "Todesspiels", das auch zum 70. Jahrestag noch Gegenstand der Forschungen ist. Der deutsche Sporthistoriker Markwart Herzog ist bei seiner Suche nach Fakten zum Spiel vielen Mythen begegnet. Im Interview mit der Deutschen Welle spricht er über die Hintergründe der Partie der deutschen "Flakelf" gegen den ukrainischen "FC Start" und die Mythen, die sich darum ranken.

Markwart Herzog
Historiker Markwart HerzogBild: privat

DW: Zunächst zu den Fakten: Was für ein Spiel war das sogenannte "Todesspiel"?

Markwart Herzog: Das war ein Revanchematch. Man hat Revanche nehmen wollen für ein Spiel am 6. August, dort hatte die Betriebsmannschaft einer Kiewer Brotfabrik mit 5:1 gegen eine deutsche „Flakelf“ gewonnen und drei Tage später, am 9. August, wurde ein Revanchematch angesetzt. Die Betriebssportmannschaft der Kiewer Brotfabrik konnte wieder gewinnen. Es war ein dramatisches Spiel – 5:3 hat es geendet. Dies sind nachweisbare Fakten. Und darüber hinaus gibt es eine Legende, die sich an diese Fakten angelagert hat.

Diese Legende, nämlich dass die ukrainischen Gegner der deutschen "Flakelf" als Strafe ermordet worden sind, ist äußerst lebendig. Im Volksmund in Kiew wird erzählt dass gegen die Brotfabrik die stärksten Fußballspieler der "Luftwaffe" angetreten waren – und verloren…

Der Gegner dieser Brotfabrik-Elf war keine prominente Mannschaft. Man weiß so gut wie gar nichts über diese "Flakelf". Als die deutschen Truppen in Kiew einmarschiert waren, hat man zunächst alle Unterhaltungsveranstaltungen verboten: Kinofilme, Konzerte, Sportevents. Erst als klar war, dass man die Ukraine als Verbündeten gegen die Sowjetunion gewinnen wollte, hat man solche Veranstaltungen im Unterhaltungsbereich wieder zugelassen, um die Menschen für Deutschland und damit gegen Stalin zu gewinnen. Man hat deshalb auch Fußballspiele wieder zugelassen. In aller Regel waren es Spiele zwischen bedeutungslosen Mannschaften. Aber bei der Mannschaft der Kiewer Brotfabrik verhielt es sich anders. Sie setzte sich aus sehr guten Spielern zusammen: aus ehemaligen Spielern von Dynamo Kiew, von Lokomotive Kiew. Und die waren den deutschen Soldaten natürlich weit überlegen.

Übersicht über das Stadion "Start" in Kiew (Foto: dpa)
Das ehemalige Zenith-Stadion war Kulisse des Spiels, um das sich 70 Jahre lang Legenden ranktenBild: picture-alliance/dpa

Hatte dieses Spiel keine besondere Bedeutung für Nazi-Propaganda?

Diese Spiele zwischen deutschen Mannschaften und Mannschaften der besetzten Länder waren wichtig für das Außenministerium, nicht aber für das Propagandaministerium. Das außenpolitische Interesse bestand darin, die Kiewer und die ukrainische Bevölkerung für Deutschland zu gewinnen. Aus dieser Sicht war es gleichgültig, ob die deutschen Teams verloren oder gewannen. Wenn eine Kiewer Mannschaft gewonnen hat, dann war das für ukrainische Seele gut – und für die außenpolitischen Interessen des Deutschen Reiches. Das Propagandaministerium hat das anderes gesehen – das Propagandaministerium unter Goebbels wollte solche Spiele verbieten, wenn das Risiko bestand, dass die deutschen "Herrenmenschen" verlieren könnten. Das war ein Dauerkonflikt zwischen Propagandaministerium und Außerministerium.

Ein Teil des Mythos ist auch, dass in der Halbzeitpause des Revanchespiels am 9. August 1942 ein geheimnisvoller SS-Offizier in die Kabine des FC Start gekommen und den Spielern mit "Konsequenzen“ gedroht, falls sie das Spiel nicht verlieren.

Zur Halbzeit lag die Mannschaft der Brotfabrik mit 3:1 in Führung. Es ist also falsch, was der sowjetische Kinofilm "Die Dritte Halbzeit" zeigt. Darin gewinnen die Kiewer nämlich nach einem 0:3-Rückstand mit 5:3. Falsch ist auch, dass ein ungerechter Schiedsrichter die Partie geleitet und die deutschen Spieler bevorzugt hätte. Aus der ukrainischen Presse ist leider nur der Vorname dieses Schiedsrichters bekannt, er hieß Erwin. Er hat viele Spiele in Kiew gepfiffen und soll sich sehr um sportliche Fairness bemüht haben. Also ein weiteres Märchen vom Todesspiel. Und das gilt auch von diesem ominösen SS-Mann, der den Spielern der Brotfabrik den Tod angedroht haben soll für den Fall, dass sie gegen die Flakelf gewinnen sollten.

Unbestritten ist aber, dass einige Spieler aus der "FC Start"-Elf später im Konzentrationslager Siretz ermordet wurden: Nikolai Korotkykh, Nikolai Trussewitsch, Alexei Klimenko und Iwan Kusmenko.

Ja, die Ermordung der Spieler der "FC Start"-Mannschaft ist das wichtigste Element der Legende vom "Todesspiel". Es wurde sogar behauptet, dass alle Kiewer Spieler unmittelbar nach dem Spiel ermordet worden sein. Die ukrainische Forschung hat schon 1992 folgende Fakten nachweisen können: Tatsächlich wurden vier Spieler dieser "Todeself" in einem KZ umgebracht. Aber es gibt keinen kausalen Zusammenhang mit dem Spiel selbst. Die Morde fanden sehr viel später statt. Anlass dafür war Streit zwischen einigen Gefangenen des KZ mit dem Lagerkommandanten, der Hund des Kommandanten hatte sich nämlich Würste geschnappt, die ihm die Gefangenen wieder entwenden wollten. Jeder ursächliche Zusammenhang mit dem "Todesspiel" selbst fehlt also.

Ein Plakat des "Todesspiels" (Quelle: Wikipedia)
Ein Plakat des "Todesspiels"

Im neuen russischen Film „Match“ (2012) über das "Todesspiel" sprechen alle Kollaborateure mit ukrainischem Akzent. Was sagt das über den Film aus?

Das ist eine Provokation gegen die ukrainischen Bürger. Wenn die Kollaborateure ukrainisch sprechen und als schmierige, böse und feige Karikaturen dargestellt werden und die guten antifaschistischen Helden junge russische Kommunisten sind, dann ist das ist ein Schlag ins Gesicht der Ukrainer.

Aber auch nach 70 Jahren bleibt die Legende vom "Todesspiel" immer noch für viele Ukrainer glaubwürdig. Warum?

Man hat in der Ukraine Untersuchungen über dieses Spiel angestellt. Man hat zahlreiche Spieler, die beteiligt waren, interviewt. Man hat das Ganze schriftlich dokumentiert, aber man hat diese Dokumente dann wieder in den Archiven verschwinden lassen. Und erst nach dem Ende des Kalten Krieges hat man diese Archive geöffnet. Die Fakten waren allen bekannt, aber sie sind aufgrund der Lenkung der Medien und der Öffentlichkeit in der Sowjetunion nicht für die Forschung freigegeben worden.

Das Gespräch führte Zakhar Butyrskyi.