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Gesellschaft

Ein Park als Spiegel der Sowjet-Nostalgie

Alexander Kauschanski
6. September 2019

Am Rande von Moskau stand lange ein gigantisches "Sowjet-Wunderland": die Ausstellung WDNCh. Nun belebt der russische Staat das Gelände wieder und mit ihm die Sehnsucht nach der UdSSR.

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Abendlicher Blick auf die zentrale Achse des Geländes der "Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft", WDNCh (ВДНХ) in Moskau
Bild: DW/A. Kauschanski

"An diesen Park habe ich die schönsten Erinnerungen." Mit einem Lächeln lässt Rentnerin Lydia Gawrilowa ihren Blick über die "Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft" schweifen, kurz WDNCh. "In der Sowjet-Zeit gingen wir hier mit Freunden spazieren. Wir freuten uns über die prächtigen Pavillons, in denen die verschiedenen Republiken der Sowjetunion ihr Kunsthandwerk und ihre besten Ernten präsentierten." Heute ist Gawrilowa alleine hergekommen. "Die monumentalen Bauten sind immer noch dieselben wie damals. Es sind die Menschen, die heute anders sind. Besser ist es nicht geworden", sagt sie bitter.

Der nach wie vor rege Strom an Besuchern, die auf das WDNCh-Gelände kommen, zeigt es genauso wie wissenschaftliche Studien: Viele Russen sehnen sich nach der Sowjetunion. Zwei von drei Menschen in Russland bedauern den Zusammenbruch der UdSSR. Diese Zahlen veröffentlichte das unabhängige Lewada-Zentrum für Meinungsforschung in einer repräsentativen Umfrage. Am meisten bedrückte die Befragten das Ende des sowjetischen Wirtschaftssystems.

Rentnerin Lydia Gawrilowa auf dem WDNCh-Gelände in Moskau
Rentnerin Gawrilowa: "Viele sind nicht zu sättigen"Bild: DW/A. Kauschanski

Lydia Gawrilowa blickt ebenfalls wehmütig auf vergangene Zeiten zurück, damals als sie mit ihren "Genossen" im Elektrizitätswerk gemeinsam Lieder dichtete und diese im Kollektiv sang. "Heute ist alles anders", sagt sie und schaut sich um. "Die Zeiten, in denen sich Menschen über die kleinen Dinge im Leben freuen, sind vorbei. Viele Menschen sind heute nicht zu sättigen. Sie wollen immer mehr Geld, die teuersten Autos und protzige Villen."

Eine sowjetische Utopie entdeckt sich neu

Wer das Gelände der WDNCh betritt, begibt sich auf die Spuren einer einstigen Utopie. Über dem gewaltigen Triumphbogen am Eingang strecken die goldenen Abbilder eines Arbeiters und einer Bäuerin stolz einen Strauß Weizen gen Himmel. Viele der etwa 100 Pavillons sind mit typisch sowjetischen Motiven verziert. Wandbilder und Mosaike zeigen Proletarier und Baukonstrukteure, Gelehrte und Landwirte, Hammer und Sichel. Heutzutage - genau 80 Jahre nach seiner Eröffnung - ist der Park eine Art UdSSR-Freilichtmuseum.

Statuen auf dem Triumphbogen am WDNCh-Eingang in Moskau
Statuen auf dem Triumphbogen am Parkeingang: Typisch sowjetische MotiveBild: DW/A. Kauschanski

Dass so viele Menschen den Zusammenbruch der Sowjetunion bedauern, hängt offenbar mit aktuellen politischen Entwicklungen zusammen. Als Beispiel nennt Karina Pipia, Soziologin am Lewada-Zentrum, die Anhebung des Rentenalters. Eine Maßnahme, die ein Großteil der russischen Bevölkerung als "Angriff auf staatliche Sozialleistungen" empfunden hätte und was dann zu einer Sehnsucht nach dem sowjetischen Sozialstaat geführt habe.

Idealisierte Sowjet-Zeit

Auf das WDNCh-Gelände kommen aber nicht nur Menschen, die sich gut an die Sowjetzeiten erinnern können. Auch junge Leute besuchen den Park, angelockt durch kostenlose Festivals an der Lenin-Statue. Auch an diesem Tag dröhnt dort, im Zentrum der Anlage, laute Musik. Jeden Tag spielen hier verschiedene Musiker, DJs legen auf und es wird um die Wette gerappt.

Der 17-jährige Artjom steht neben der Bühne. Er gehört zu den "Puteens" - der Generation Jugendlicher, die in den 20 Jahren aufgewachsen sind, seitdem Wladimir Putin in Moskau an der Macht ist. "Die Sowjetunion kenne ich nur aus Erzählungen meiner Eltern", sagt Artjom. Ihre Geschichten hätten mit dem WDNCh-Kitsch  aber nichts zu tun. "Dieser Freizeitpark ist nichts anderes als zeitgenössische Propaganda im sowjetischen Gewand", ärgert er sich.

Lenin-Statue vor dem "Haus der russischen Völker" auf dem WDNCh-Gelände in Moskau
Lenin-Statue vor dem Haus der russischen Völker: Mit Rap und DJs junge Leute anlockenBild: DW/A. Kauschanski

Diesen Herbst wird Artjom sein Medizinstudium beginnen. Er weiß nicht, was er sich für die Zukunft Russlands wünscht: "Die Lage erscheint aussichtslos. Viele meiner Freunde möchten auswandern. Auch ich denke darüber nach." Wissenschaftliche Umfragen bestätigen, dass mehr als 40 Prozent aller jungen Menschen in Russland lieber im Ausland leben wollen.

Forschungsgebiet der Soziologin Valeria Kasamara ist die kollektive Erinnerung an die Sowjetunion. Die meisten jungen Leute "wissen nur wenig über die Sowjetunion", sagt sie. Eine von Kasamaras Untersuchungen hat ergeben, dass junge Russen das Leben in der Sowjetunion idealisieren, während sie keine Idee hätten, wie die gegenwärtigen Herausforderungen in Russland zu lösen seien.

Geschönte Geschichte

Das Sowjetgedenken bei der WDNCh in Moskau ist jedenfalls mittlerweile wieder auf Hochglanz poliert. Kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er Jahre war das Areal zusehends verfallen. Der Park wurde privatisiert, Kleinkriminelle plünderten Ausstellungspavillons und auf dem Gelände feilschten Besucher um geschmuggelte Elektronik und Kunststoffpelze.

Renovierter Springbrunnen auf dem WDNCh-Gelände in Moskau
Renovierter Springbrunnen auf dem WDNCh-Gelände: Teure, aber billig anmutenden InstandsetzungBild: DW/A. Kauschanski

In den 2000ern zeigte dann die Regierung unter Putin vermehrt Interesse, das sowjetische Erbe wiederzubeleben. 2013 kaufte die Moskauer Stadtverwaltung den gesamten Park von Privatanlegern zurück und ist seitdem damit beschäftigt, ihn zu renovieren, zu entrümpeln und mit neuen Aufgaben zu versehen. So wurde im Russland-Pavillon ein hochmodernes Bürgeramt eingerichtet und im Technograd-Komplex lässt sich der Umgang mit 3D-Druckern erlernen.

Einige Modernisierungsarbeiten werden allerdings kontrovers diskutiert: Viele Moskauer sind empört, wie die Springbrunnen auf dem Gelände renoviert wurden: Die hohen Kosten würden in keinem Verhältnis zur billig anmutenden Instandsetzung stehen.

Heute verkörpert der Park den Drang, Vergangenes zu konservieren. Neue wie alte Errungenschaften sollen zur Schau gestellt werden. Im Pavillon Nr. 57 ist die Ausstellung "Russland - meine Geschichte" zu sehen. Dort wird der stalinistische Terror als "notwendiges Übel" dargestellt. Wie einst in sowjetischen Geschichtsbüchern werden Gräueltaten kaschiert und Errungenschaften glorifiziert. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion findet auf dem WDNCh-Gelände nicht statt. Stattdessen werden überall im Park die Hammer-und-Sichel-Embleme neu vergoldet.

Ganz im Glanz der alten Zeiten.