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Das radikal Böse

Birgit Görtz16. Januar 2014

In der besetzten Sowjetunion ermordeten NS-Einsatzgruppen zwei Millionen Juden. Der neue Film von Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky fragt: Wie wurden aus jungen Männern Massenmörder?

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Filmszene "Das radikal Böse" (Foto 1-4: W-film / Christoph Rau)
Bild: W-film/Benedict Neuenfels

Der Österreicher Stefan Ruzowitzky wagt den Spagat zwischen erklären und anklagen. Und dann will er auch noch Lehren für unsere heutige Gesellschaft daraus ziehen. Geht das? Ja, es geht. Genau so: mit einer Art dokumentarischem Essay oder einem cineastischem Feature. Es ist ein fragender Film: Wie wurden aus psychisch unauffälligen Männern Mörder?

Die Täter sind Mitglieder der Einsatzgruppen, jener Kommandos unter dem Befehl der SS, die in den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 zwei Millionen Juden ermordeten. Der Film befragt Historiker und Psychologen, sucht Antworten in Originalzitaten, Tagebüchern und Gerichtsprotokollen. Historische Szenen werden nicht wirklich nachgestellt: Meist sieht man nur Gesichter unbekannter Schauspieler in Großaufnahme. Die Stimmen kommen stets aus dem Off.

Kein Tabubruch

Den Genozid filmisch aufgreifen, das Unfassbare zu erklären versuchen - darf man das? "Ja, das darf man", sagt der Historiker Andrej Angrick, der seit vielen Jahren über die Einsatzgruppen forscht. "Aus meiner Warte gibt es keine Denkverbote." Mit der Art und Weise der filmischen Umsetzung betrete Ruzowitzky keineswegs Neuland, sagt Angrick. "Es gibt eine Reihe von Filmen, in denen dokumentarisches Filmmaterial mit Spielszenen gemischt wird. Es ist kein Stil- oder Tabubruch, so lange man die Herkunft der Zitate kenntlich macht."

Gesicht in Großaufnahme: Filmszene "Das radikal Böse" (Foto 1-4: W-film / Christoph Rau)
Stilistisches Mittel: Gesichter in GroßaufnahmeBild: W-film/Christoph Rau

Wie funktionieren Verdrängungsmechanismen, wie wirken sich Gruppenzwang und Konformitätsdruck aus? Ruzowitzky lässt berühmte Experimente wie das Stanford- oder das Milgram-Experiment nachstellen. Dabei testen die Verhaltensforscher die Bereitschaft der Probanden, auf vermeintliche Anordnung von oben, Mitmenschen zu foltern. Dass der Film die Szenen distanziert und stilisiert zeigt, macht das niederschmetternde Ergebnis - die Mehrheit foltert auf Anordnung bis zum Äußersten - nicht besser. Auch nicht, wenn man weiß, dass die "Opfer" ihre Folterung nur vortäuschten.

Verdrängte Tatsachen

Der Film stellt in unangenehmer Deutlichkeit heraus, was oft verdrängt wird: Die Männer der Einsatzgruppen hatten sehr wohl eine Alternative: Sie hätten durchaus die Tötungsbefehle verweigern können, ohne Gefahr für Leib und Leben. Ihnen drohte lediglich eine Versetzung oder das Übergehen bei der nächsten Beförderungsrunde. "Die einzige Einschränkung gilt der Motivlage", ergänzt Andrej Angrick. "Eine Argumentation - ich bin nicht an die Front gegangen, um Frauen und Kinder zu erschießen, sondern um zu kämpfen - war möglich. Eine Argumentation aus ideologischen Erwägungen, wäre für den Mann selbst zum Problem geworden." Wer die Teilnahme an Mordkommandos verweigerte, dem wurden andere Aufgaben zugewiesen. Ein Ausschluss aus dem Mannschaftsverband war nicht zu befürchten, von Sanktionen ganz zu schweigen, bestätigt Angrick.

Otto Ohlendorf, Chef der Einsatzgruppe D, vor dem Nürnberger Tribunal 1947. Er plädierte auf : "Nicht schuldig."
Otto Ohlendorf, Chef der Einsatzgruppe D, vor dem Nürnberger Tribunal 1947. Er plädierte auf : "Nicht schuldig."Bild: imago/United Archives

Warum also?

Wie aber wurden aus psychologisch unauffälligen Menschen, normalen Männern, Extremverbrecher? Im Film empfinden die Männer das erste Hinrichtungskommando als große seelische Belastung, doch dann setzen gruppendynamische Prozesse und Konformitätsdruck ein. Die propagandistische Indoktrination tut ihr übriges.

Am Ende ist das Morden für die Männer so etwas wie ein schmutziger Job, der getan werden muss zum Erreichen eines höheren Ziels. "Im NS-Staat war das eine Glücksverheißung, das germanische Utopia, eine perfekte Gesellschaft", erklärt Andrej Angrick. "Die Juden wurden getötet, nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie und andere NS-Verfolgte in der Gedankenwelt der Nationalsozialisten dem Erreichen eines 'arischen Garten Eden' im Wege standen. Der Vernichtungskrieg war ein Krieg für Utopia, am Ende stand ein Heilsversprechen zum Wohl derer, die dazu gehörten."

Kommt am 16. Januar 2014 in die Kinos. Filmplakat "Das radikal Böse" (Foto 1-4: W-film / Christoph Rau)
Kommt am 16. Januar 2014 in die KinosBild: W-film

Das Böse in uns

Der Filmtitel geht zurück auf eine Schrift Immanuel Kants vom Ende des 18. Jahrhunderts. Der Philosoph argumentierte - vereinfacht gesagt - so: Die Anlage zum Zuwiderhandeln gegen allgemeine, sittliche Normen schlummere in einem Jeden. Der berühmte Psychiater Robert Jay Lifton spricht in Ruzowitzkys Film vom "menschlichen Potential" eines Jeden, Böses zu tun. Doch wann bricht sich dieses Böse Bahn, sprengt die Grenze des als allgemein sittlich Anerkannten? Lifton sieht die Lösung in der politischen Kultur, die dem Einzelnen die Leitplanken des Handelns setzt.

Der deutsche Historiker Angrick hält das für zu kurz gedacht. Er betont die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: "Meiner Ansicht wären 95 % der Männer der Einsatzgruppen in einer anderen Gesellschaft nicht zu Extremverbrechern geworden. Politische Kultur allein hilft nicht. Notwendig sind gebildete Eliten." Wenn die Elite immun sei - Politiker, Juristen, Schauspieler, Ärzte - dann stabilisiere das die Gesellschaft. Zudem dürfe politische Kultur nicht auf einen mehr oder minder intellektuellen Zirkel beschränkt bleiben.

Filmszene "Das radikal Böse" (Foto 1-4: W-film / Christoph Rau)
Re-Enactment ohne Getöse: Ruzowitzkys Film kommt leise und eindringlich daherBild: W-film/Christoph Rau

Die Gefahr zu großen Verständnisses

Vor allem aber betont Angrick die Rolle der Strafverfolgung: "Der Staat muss Sanktionen nicht nur androhen, sondern auch Grenzen durchsetzen." Zudem dürfe eine Gesellschaft nicht den Fehler machen, eine - wie er es nennt - "zu verständnisvolle Gesprächskultur" zu pflegen, und meint beispielsweise den Umgang mit Neonazis. "Sachverhalte zu verstehen, birgt immer die Gefahr von Exkulpation, dem Freisprechen von Schuld und damit auch der Billigung."

Freisprechen und Billigen - in diese Falle tappt Stefan Ruzowitzkys Film jedenfalls nicht. Am Ende ist glasklar: Die Mörder können sich nicht drauf berufen, keine Alternative gehabt zu haben, oder die Schuld auf einen abstrakten NS-Staat weg zu delegieren. Sie sind persönlich verantwortlich für ihre Taten.