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Film

Doku: Erwachsenwerden in Afghanistan

Manasi Gopalakrishnan
10. November 2021

Als Kind lebte er in Bamiyan, als Erwachsener litt er unter den Taliban. Die Dokumentation "Meine Kindheit, mein Land" erzählt vom Schicksal eines Afghanen.

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Filmstill aus "My Country, My People" zeigt einen afghanischen Jungen
Mir Hussein wuchs in Bamiyan aufBild: Phil Grabsky

Der Film beginnt mit dem ohrenbetäubenden Krach einer Bombenexplosion, dann folgen Sirenengeheul und Stimmengewirr. Eine Szene später sind unverhüllte Frauen zu sehen - auf Kabuls belebten Straßen, irgendwann in den 1980er-Jahren. Eine Stimme aus dem Off sagt: "Mein Name ist Mir. Das ist meine Geschichte und die Geschichte meines Landes."

Der Film "My Childhood, My Country: 20 years in Afghanistan" (deutsch: "Meine Kindheit, mein Land: 20 Jahre in Afghanistan") lebt von Kontrasten. Regie führten bei der Produktion, an der auch der Westdeutsche Rundfunk und der deutsch-französische Kultursender Arte beteiligt waren, der Brite Phil Grabsky und Shoaib Sharifi - der ursprünglich als Übersetzer bei dem Projekt angefangen hatte. Erzählt wird die Geschichte des jungen Afghanen Mir Hussein in den Jahren von 2001 bis 2021. Vor zehn Jahren hatte Grabsky schon den Dokumentarfilm "Der Junge Mir" veröffentlicht, jetzt erfährt man, wie es weiterging im Leben des Afghanen.  

Dreharbeiten in Afghanistan

Alles begann kurz vor den Vergeltungsschlägen der US-Amerikaner nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. Zwischen 1996 und 2001 führten die Taliban in Afghanistan ein strenges Scharia-orientiertes Regime: Frauen waren ohne Rechte, Schulen geschlossen. Das Rad der Entwicklung in Afghanistan dreht sich rückwärts.

Phil Grabsky, ein erfahrener Dokumentarfilmer, fuhr nach Afghanistan, um sich selbst ein Bild zu machen. "Ich wollte sehen, was das für Menschen sind. Die Männer können nicht alle bärtige Terroristen sein, und die Frauen nicht alle stumme Burkaträgerinnen", so der Regisseur.

Mit einer unauffälligen Handycam im Gepäck, erinnert sich Grabsky bei einem Podiumsgespräch auf dem Cologne Film Festival im Oktober 2021, sei er losgefahren.

Eine zukunftsweisende Geschichte

"Ich wusste noch nicht, welche Story herauskommen werden würde", erzählte Grabsky, der sich einem UNO-Konvoi anschloss, um im Bamiyan-Tal zu drehen. Von einem Journalisten hatte er gehört, dass dort Menschen in Höhlen leben. Er habe geplant, einen Mann zu finden, dessen Geschichte er erzählen wollte.

Direktor Phil Grabsky (Mitte) steht zwischen Mitarbeitenden des WDR vor einem Plakat des Film Festivals Cologne
Direktor Phil Grabsky (Mitte) auf dem Filmfest CologneBild: Ying Tang/NurPhoto/picture alliance

"Doch die Männer waren erschöpft, depressiv, machten gar nichts. Die saßen nur rum und tranken Tee." Da machte Grabsky die Bekanntschaft des achtjährigen Mir Hussein. "Mir war schnell klar: wenn ich einen Film über ihn drehte, würde sich das Publikum Fragen stellen wie: Wohin steuert Afghanistan? In welchem Land wird dieser Junge aufwachsen?", so Grabsky. Außerdem würde die Geschichte des Jungen die Frage aufwerfen, was mit den westlichen Hilfsgeldern passiert und welchen Effekt sie bringen.

Vom Höhlenbewohner zum Kameramann

Im Film wird das Leben von Mir Hussein in Beziehung gesetzt zur  Entwicklung Afghanistans weg von einer konservativen, rückständigen Gesellschaft zu einem weltoffeneren Land. Mirs Familie lebte in einer der Höhlen in den Felsen, in denen vor der Zerstörung die Buddha-Statuen von Bamiyan standen. Im Film führt der kleine Junge den Filmemacher an  Orte, an denen noch ihre Umrisse zu erkennen sind. Mir lebte dort zusammen mit seiner Großmutter und seinem Vater.

Die Jahre vergehen und Mir Hussein wächst zu einem jungen Mann heran, der schließlich die Schule schmeißt und in einer Mine arbeitet. Wie es in Afghanistan Tradition ist, heiratet er jung und bekommt zwei Söhne.

"Wir Afghaninnen werden kämpfen müssen"

Nachdem er jahrelang vergeblich Arbeit sucht, zieht Mir schließlich in die Hauptstadt Kabul, und entscheidet sich für eine Ausbildung zum Kameramann. Viele der Szenen im Film wurden von ihm selbst gedreht.

Es schien sich alles gut zu fügen in Mirs Leben, doch dann ließ US-Präsident Trump verlautbaren, die USA hätten mit den Taliban eine Vereinbarung über den Truppenabzug getroffen. Sein Nachfolger Joe Biden bestätigte, dass die US-Truppen im September 2021 aus Afghanistan abgezogen würden. Auch Deutschland, Großbritannien und andere NATO-Staaten beschlossen kurz darauf, Afghanistan zu verlassen.

Rückkehr der Taliban

"Es wird Krieg geben, denn die Taliban können nicht aufgehalten werden", sagt Mir in einer Szene des Dokumentarfilms - wenige Monate, bevor die Taliban im die Herrschaft zurückeroberten. "Die eine Hälfte der Bevölkerung ist für die Taliban, die andere Hälfte gegen sie. Sie werden wieder Menschen unterdrücken", ergänzt Mirs Frau. Ihr ist klar, dass Frauen Strafen drohen werden, wenn sie nicht den Moralvorstellungen der Taliban gemäß leben und einen Hijab tragen. "Die Taliban glauben, sie seien die einzig wahren Muslime."

Kurz nach diesen Aufnahmen wird Kabul von den Taliban eingenommen. Auf dem Filmfestival Cologne berichtet Regisseur Phil Grabsky, wie haarscharf Mir Hussein bei einem Selbstmordattentat davon gekommen sei, nur wenige Monate vor dem Truppenabzug. Doch er sei in Sicherheit und verfolge die Entwicklungen in seinem Land mit Sorge - wie so viele seiner Landsleute, so der Filmemacher. "Mir ist ein bemerkenswerter junger Mann und ich bin sehr glücklich, dass ich sein Leben begleiten konnte."

Der Artikel wurde von Julia Hitz aus dem Englischen adaptiert.