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Die Vereinigung ist nicht vollendet

Heinz Dylong4. Oktober 2004

Vor 14 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt. Ein folgenreiches Ereignis. Trotz aller Freude: Die Vereinigung ist in Wahrheit ein andauernder Prozess ist, der seinen Endpunkt noch längst nicht erreicht hat.

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Staatsrechtlich wurde die Deutsche Einheit 1990 vollzogen, vollendet, wie es das Grundgesetz in seiner bis dahin gültigen Fassung forderte, ist sie allerdings noch nicht. Die Solidarität, das selbstverständliche Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören - Elemente einer Nation - blitzt vorläufig nur gelegentlich auf. Etwa als es vor zwei Jahren galt, mit den Folgen des Hochwassers an der Elbe fertig zu werden. Die Spendenbereitschaft auch der Westdeutschen war beeindruckend. Es sind wohl wirklich solche Situationen, in denen eine Nation zusammenwächst.

Und auf der anderen Seite stehen die wechselseitigen Animositäten. Da sind die Westdeutschen, die finden, dass die neuen Länder inzwischen genug Transferleistungen erhalten hätten. Und da sind die Ostdeutschen, die sich nach wie vor benachteiligt fühlen. All das mag sich statistisch relativieren lassen. Doch darauf kommt es in Wahrheit gar nicht an. Denn, so lyrisch das auch klingen mag, Zusammengehörigkeit und Solidarität sind keine Frage des Kassenbuchs. Natürlich hat man den Menschen etwas vorgemacht, als man zur Zeit der Vereinigung den Eindruck erweckte, die Folgekosten ließen sich geradezu nebenbei aufbringen, und die Blüte der Wirtschaft in Ostdeutschland sei zwangsläufig. Doch die Folge der damaligen Versäumnisse, Unaufrichtigkeiten oder Fehleinschätzungen kann nicht sein, heute das Ziel der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" aufzugeben. Es ist gut, dass das Grundgesetz eben dies fordert, nur so werden Regierung und Parlament gezwungen, diese Einheitlichkeit jedenfalls anzustreben. Dass sie sich nicht in Reinkultur erreichen lässt, liegt auf der Hand. Doch das Streben danach sorgt jedenfalls dafür, die gravierendsten Unterschiede auszugleichen. Und das muss das Ziel der Politik bleiben, will man nicht die Entvölkerung ganzer Regionen riskieren. Genau das würde in Ostdeutschland drohen.

Die Menschen dort fühlen sich schon von den derzeit diskutierten Sozial- und Arbeitsmarktreformen besonders bedroht. In einigen Fällen macht sich dieses Gefühl bei Wahlen auch in der Abwanderung zu rechtsextremen Parteien Luft. Und auch wenn sich dahinter wohl nur bei wenigen ein ausgesprochen rechtsextremes Weltbild verbirgt, so kommt die Wahl von NPD und DVU doch einem Misstrauensvotum gegen die Demokratie gleich.

Es wäre gut, wenn man sich gelegentlich der unübersehbaren Fortschritte in der sozialen- und wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands besinnen würde. Denn tatsächlich wurde viel erreicht.

Bedenklich bleibt, dass die Westdeutschen nur wenig Neugier zeigen, das Leben ihrer ostdeutschen Landsleute zur Zeit der DDR kennen zu lernen. Dabei kann man beileibe nicht behaupten, dass - über wohlbekannte Klischees hinaus - von hinreichendem Wissen die Rede sein kann. Wichtig wäre das allerdings. Denn die sehr unterschiedliche Sozialisierung der Menschen in den beiden deutschen Staaten hatte naturgemäß Folgen, die weit über den 3. Oktober 1990 hinaus reichten. Und das Leben Einzelner lässt sich eben nicht in die handliche Form von Klischees pressen. Gegenseitiges Verstehen verlangt mehr.