1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Stille nach dem Schuss

Aygül Cizmecioglu3. Juli 2004

Europa ist im Ausnahmezustand. Überall wird gekickt, gewettet und grenzenlos dem Fußball gefrönt. Fußball ist Kult. Mehr denn je wird deshalb nicht nur Fußball gespielt, sondern auch über den Fußball geschrieben.

https://p.dw.com/p/5F5Z
Das Spielfeld als Spiegel der WeltBild: Nick Hornby

Alle zwei Jahre - zur EM oder zur Weltmeisterschaft - werden die Buchauslagen überschwemmt. Bunte Wälzer liegen dann dort aus. Lebensbeichten von Ex-Kickern und Ratschläge von einstigen Trainergrößen. Die Verlage meinen, damit ihre Gewinnspanne erhöhen und den Horizont des alphabetisierten Sportpublikums erweitern zu können.

Der Wunsch, Literatursäle wie Fußballstadien zu füllen, macht aus Kickern Teilzeitpoeten. "My Side" oder "Nummer Eins" heißen dann die literarischen Ergüsse. David Beckham erzählt, wie er von einem Underdog zum Superstar wurde und Oliver Kahn spricht über seine malträtierte Torwartseele.

David Beckham Autobiographie
Ein Mann zum Nachlesen - David Beckhams AutobiografieBild: AP

Ästhetik der Pässe

Dass zwischen dem gedruckten Wort und dem fliegenden Ball mehr Gemeinsamkeiten herrschen, wissen die wenigsten. Einst der Sport der Unterprivilegierten, ist Fußball längst zum Kultspiel der Intellektuellen avanciert. Besonders auf Schriftsteller übt das Spiel um den runden Lederfetzen eine immense Faszination aus.

Von Handke bis Loest versuchen die unterschiedlichsten Autoren, das gemeinsame Feld von Ball und Buch zu erkunden. Die Ästhetik der weiten Pässe wird gepriesen und die Visionen des raumöffnenden Zuspiels werden bewundert. Metaphorisch erhöht und dichterisch auf Vordermann gebracht, entrückt das Spiel mit den elf Freunden in eine unwirkliche Welt.

Über Götter und Kaiser

Aus der massentauglichen Inszenierung wird bei Popautor Nick Hornby eine Liebeserklärung. "Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden." Hornbys Kultbuch "Fever Pitch" versucht die Anfänge einer lebenslangen Faszination für diesen Sport herauszufinden.

Buchcover Nick Hornby Fever Pitch
Kultbuch unter Fußballern - Nick Hornbys "Fever Pitch"

Dabei ähnelt der erste Kontakt mit dem Ball gar einem Initiationsritus. Da geht ein kleiner Junge zum ersten Mal mit seinem Vater ins Fußballstadion. Er ist dick, unsportlich: Doch kaum durch den Tribüneneingang durchgepfercht, erweitert sich sein Horizont. Das Spielfeld ist nicht mehr nur ein Stück Rasen, sondern ein autonomer Raum, eine von Zeit und Alltag befreite Parallelwelt mit eigenen Regeln.

Da gibt es die treuen Stehplatzabonnenten, die besessenen Hooligans - und natürlich die Stars. Aus dem Versicherungskaufmann Beckenbauer wird der Kaiser Franz und der Schuhmacher Pelé avanciert zum "Fußballgott". Für neunzig Minuten gilt dann: Team A ist gut und Team B ist böse.

Halt im Chaos

"Dieses Spiel bringt für viele Menschen eine Einfachheit und Struktur in ihren Alltag. Für viele ist alles wieder in Ordnung, wenn sie samstags die Erkennungsmelodie vom Aktuellen Sportstudio hören", erklärt Siegfried Hermes im Gespräch mit DW-WORLD. Für den Soziologen ist Fußball ein sinnstiftendes und ordnendes Element im Leben vieler Menschen. Er ist überschaubar und verlässlich. Zwischen Steuererklärung und Stau gibt er uns Halt.

Jubelnde Fußballer
Bei Umarmungen lassen Fußballer wie Luis Figo, 'Guti' Gutierres und Ronaldo (v.l.) die weibliche Seite raus - sagen ExpertenBild: AP

Viele Psychologen behaupten sogar, Fußball sei die einzige Spielwiese, auf der Männer ihre weibliche Seite ausleben können. Während Männerumarmungen sonst eher ungewöhnlich sind, gehört das Aufeinanderspringen nach einem Tor zum festen Ritus auf dem Spielfeld.

"Bis dass der Tod uns scheidet!"

Für den Autor und Soziologen Klaus Theweleit ist Fußball sogar ein "Tor zur Welt". In der Leidenschaft für den Fußball, so seine These, bildet sich ein Ordnungsmuster, das ein Leben lang nicht mehr verloren geht. Fußball wird zur Folie für die Sozialisation des Menschen. Man lernt die Zeit einzuteilen - nach dem Spielplan der Liga; erträgt die Einsamkeit in der Saisonpause und trainiert seinen Geist durch das lückenlose Erstellen von Ligatabellen und Spielergebnissen.

Wie etwa Salman Rushdie. Der britische Autor hat sich unlängst als hartgesottener Fan der englischen Fußballmanschaft Tottenham Hotspurs geoutet. In seinen "Bekenntnissen eines Fußballfans", beschwört er Spielerschicksale, Ergebnisse, Schlachtgesänge und bringt die Faszination für diese Sportart auf den Punkt: "Das bedeutet es, ein Fan zu sein: warten, Jahrzehnte der Enttäuschung ertragen, und doch keine Wahl in Sachen Treue zu haben. Wenn das Team gewonnen hat, fühlt sich das Wochenende besser an. Wenn sie verloren haben, hängt eine schwarze Wolke über mir. Es ist zum Erbarmen. Eine Sucht. Eine monogame Liebe, bis dass der Tod uns scheidet."