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«Die Situation erinnert schon an eine Revolution»

20. Januar 2005

Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Russland, Gennadij Sjuganow, übt Kritik an der Sozialreform in seiner Heimat. Im DW-Interview spricht er über das weitere Vorgehen seiner Partei.

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Kommunisten-Chef Gennadij Sjuganow will die russische Regierung absetzenBild: AP

DW-RADIO/Russisch: Gennadij Andrejewitsch, wie groß ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass die Proteste in Russland sich zu einer Revolution auswachsen, die der „Orangen Revolution“ in der Ukraine ähnelt?

Gennadij Sjuganow: Die Situation erinnert schon an eine Revolution – wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Die Situation ist schwierig und verantwortungsvoll. Wenn mit einem Schlag 103 von 143 Millionen Bürgern bestraft werden, dann ist das eine angemessene Reaktion.

Gestraft werden diejenigen, die das Land erschlossen haben, wer im Norden gearbeitet hat, wer Tschernobyl liquidiert hat. Alles, was die Staatmacht ausverkauft und stiehlt, haben gerade jene geschaffen. Die Bürger sind nicht einfach nur empört, wenn ein Mann aus dem Bus rausgeschmissen wird. Gestern konnte er noch zum Krankenhaus fahren, heute darf er es nicht mehr. Gestraft sind auch Militärs, die praktisch 20 000 Rubel im Jahr verlieren, und die Miliz ist auch in einer solchen Lage.

Ende Januar, Anfang Februar werden sie die Rechnungen für die Wohnungen erhalten, und dann wird man sehen, dass die Kosten stark gestiegen sind. Fast um das Doppelte steigen die Telefonkosten, usw. Kurz gesagt, die Situation spitzt sich zu.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat erklärt, der aktuelle soziale Konflikt im Land sei eine Folge dessen, dass die Regierung und die Regionen die gestellte Aufgabe nicht vollständig umgesetzt hätten. Überzeugt Sie diese Erklärung?

Wir haben beschlossen, eine Unterschriftensammlung für die Absetzung dieser Regierung zu beginnen. Sie machen ihre Arbeit stümperhaft, sie sind gewissenlos. Sie verfolgen eine unmoralische Politik. Die Regierung verfügt über 144 Milliarden US-Dollar in Fonds und Goldreserven – warum nimmt sie den alten Menschen das Geld weg? Warum lässt sie dieses Geld nicht in die Entwicklung moderner Unternehmen fließen? Es muss eine Regierung mit nationalen Interessen gebildet werden – aber ohne einen massenhaften Druck von unten. Und die Fraktion „Einiges Russland“, die eine Mehrheit in der Staatsduma hat, wird eine solche Regierung nicht bilden.

Wie wirken sich Ihrer Meinung nach die Folgen der Sozialreform auf das Ansehen des Präsidenten in der Bevölkerung aus?

Er hat seine Amtszeit nicht sehr erfolgreich begonnen. Es gab keine einzige richtige und sinnvolle Entscheidung. Der Grund und Boden ist zum Ausverkauf freigegeben worden, und die Situation verschlechtert sich. Der Kampf gegen den Terror ist ineffektiv, mit dem Blut von Beslan und dem Blut der Kinder ist das ganze Land getränkt. Die Kriminalität entwickelt sich wie früher, die Korruption wuchert. Man hat beschlossen, im 60. Jahrestags des Siegs die alten Menschen auszuplündern. Alle Fernsehkanäle haben sie gleichgeschaltet, die von morgens bis abends die gleiche Platte spielen.

Ihre Partei organisiert zusammen mit der demokratischen Partei „Jabloko“ Protestaktionen. Welches Ziel haben sie, und wie sehen die weiteren Pläne der KPRF aus?

Wir sind eine breite Vereinigung patriotischer Kräfte: die Kommunistische Partei, die Frauenbewegung, die Jugend, die Veteranen. Ziel ist es, eine Regierung der Volksinteressen zu bilden, den sozialen und wirtschaftlichen Kurs zugunsten von Arbeit und guter Ausbildung zu ändern sowie die elementare Unterstützung aller Bürger zu gewährleisten.

Das Interview führte Sergej Wilhelm,
DW-RADIO/Russisch, 18.1.2005