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Es lebe die Dekadenz

Janis Vougioukas21. Mai 2007

Schanghai entdeckt seine Geschichte, der Glanz der dekadenten Kolonialzeit ist zurück. Und darüber freut sich selbst die Kommunistische Partei.

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Ich traf Rose Tang zum ersten Mal vor ein paar Jahren, als ich eine Geschichte über die Kolonialzeit in Schanghai recherchierte. Sie war da schon Ende siebzig, strahlte vor Lebensfreude und -energie und verabschiedete sich nach unseren Treffen mit einem Küsschen. Wir haben den Kontakt über die Jahre gehalten und ich freue mich jedes Mal, wenn Rose sich Zeit nimmt, mir von ihrem Leben zu erzählen.

Die Tänzerin erzählt. Ihr Vater, ein stolzer Mann, der erste Chinese, der in Edinburgh Medizin studiert hatte und von dort den westlichen Lebensstil nach Schanghai brachte. Er behandelte die Krankheiten der reichen Schanghaier Familien, der Industriellen und Beamten. Ein Lebemann mit vier Ehefrauen.

"Gott schuldet Sodom und Gomorrha eine Entschuldigung"

Rose wuchs auf in der behüteten Welt der reichen Schanghaier Oberschicht. Die Hafenstadt war eine schillernde internationale Metropole. Über 100.000 Ausländer lebten hier, regiert von Kartellen, Konsuln, Räuberbanden und multinationalen Handelshäusern. Schanghai war das Zentrum der kolonialen Wirtschaft, der Kultur, des dekadenten Lebensstils. Es gab fast 700 Bordelle, zahllose Casinos, exklusive Clubs und Opiumhöhlen. "Wenn Gott Schanghai duldet, schuldet er Sodom und Gomorrha eine Entschuldigung", schrieb ein westlicher Missionar in einem Brief in die Heimat.

Sie war noch jung, als sie Yao Zhihao heiratete. Er arbeitete beim Zoll am Schanghaier Bund, bei den Banken und Konsulaten in den teuersten Gebäuden Asiens. Jeden Tag holte Rose ihn mit der Rikscha von der Arbeit ab. Er lud sie zum Dinner ins "Cathay"-Hotel, und in der Nacht gingen sie tanzen.

"Hure der Imperialisten"

Dann kamen die Kommunisten. Maos Bauernsoldaten war Schanghai fremd. Die Truppen, die das "Cathay"-Hotel besetzten, lagerten ihren Reis im Wasserklosett. Sie nannten Schanghai die "Hure der Imperialisten". Die Ausländer und reichen Unternehmer flohen, Namen ihr Geld und die Dekadenz mit, aber Rose wollte nicht gehen. Sie kannte andere Flüchtlinge. Hatte gesehen, wie nach der russischen Revolution Flüchtlinge aus Sankt Petersburg und Moskau nach Schanghai gekommen waren. Hieri lebten sie das armselige Leben der Besitzlosen, arbeiteten als Kellner, Seifenverkäufer und Prostituierte an der Avenue Joffre, der heutigen Huaihai Lu. "Ich will kein Flüchtling sein", dachte sie. Und blieb.

Rose wurde enteignet, gedemütigt, beschimpft, musst in Fabriken Toiletten putzen. Sie dachte an Selbstmord. Ich traf sie im Paramount, ein Tanzpalast im Art-Déco-Stil. Als das Paramount 1931 eröffnete, galt der Ballsaal als der schönste in ganz Asien. Nach der Revolution verwandelten die Kommunisten das Gebäude in eine Markthalle. Dann, vor ein paar Jahren, renovierte ein Unternehmer aus Taiwan das Gebäude und eröffnete es im alten Stil. Rose kam fast jeden Abend, tanzte bis tief in die Nacht zwischen den wehenden Seidenkleidern auf dem Parkett. "Im Paramount lebt die alte Zeit fort“, sagte Rose.

Keiner redet mehr von "moralischen Verschmutzung"

Die meisten Menschen in Schanghai konnten erst nichts mit dem renovierten Palast anfangen: Sie mochten die modernen Hochhäuser lieber als Altbauten. Die Stadtregierung misstraute jeder Erinnerung an die kolonialen Zeiten und vermutete gar "moralische Verschmutzung“.

Heute eröffnen jede Woche neue exklusive Klubs, Hotels und Restaurants; die schönsten Kolonialvillen sind aufwändig restauriert worden. Dekadenz, wogenden Partys und der verschwenderische Reichtum sind zurück. Und Schanghai ist heute stolz auf seine Geschichte. Der Bund, die Uferpromenade entlang des Huangpu-Flusses ist inzwischen so prächtig wie früher. Nur weht über den Dächern der Handelshäuser heute die Rote Fahne.