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Russland Studie

3. Juli 2008

Vertreter der russischen Mittelschicht fürchten, ihr Eigentum zu verlieren. Sie glauben nicht an Stabilität im Lande und denken an Auswanderung. Zu diesem Ergebnis kommen Experten des russischen Lewada-Zentrums.

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Neue Kaufkraft in RusslandBild: picture-alliance/dpa

Vertreter der russischen Mittelschicht haben Arbeit, Wohneigentum und meist auch eine Datscha und ein Auto. Ihre Kinder besuchen angesehene kostenpflichtige Schulen. Im Sommer verbringt die ganze Familie ihren Urlaub im Ausland. Dennoch entspricht die russische Mittelschicht nicht der klassischen Vorstellung über diese soziale Gruppe. Man kann sie auch eigentlich gar nicht als Mittelschicht bezeichnen. Zu diesem Ergebnis kommen Experten des russischen Lewada-Forschungszentrums, das im Auftrag des EU-Russland-Zentrums die Studie "Mittelschicht in Russland: Ansichten zu Russland und Europa" angefertigt hatte. Am 26. Juni wurde sie auf einer Pressekonferenz in Moskau vorgestellt.

Furcht vor Verlust des Eigentums

Die Errungenschaften der russischen Mittelschicht würden vom Gefühl einer unsicheren Zukunft begleitet, so Boris Dubin, Experte des Lewada-Zentrums zu den Ergebnissen der Studie. "Nur ein kleiner Teil der Befragten glaubt, die Situation im Lande sei stabil", sagte Dubin. Ein großer Teil der Befragten beabsichtige nicht, sich am politischen Leben zu beteiligen, und sehe zudem auch keine Möglichkeit für sich, Einfluss auf die Lage im Lande zu nehmen. Weit verbreitet sei die Befürchtung, das erreichte Eigentum wieder zu verlieren. Die Situation werde als ausweglos betrachtet. Viele würden deshalb gerne in den Westen übersiedeln.

Das EU-Russland-Zentrum, das die Studie in Auftrag gegeben hatte, legte auch die Kriterien fest, nach denen die Befragten ausgesucht wurden. Für Moskau bedeutete dies: ein Monatseinkommen von mindestens 1500 Euro, ein Hochschulabschluss und ein Alter von unter 39 Jahren. Für Einwohner anderer Regionen wurden niedrigere Einkommensgrenzen angesetzt. Beispielsweise in Rostow am Don oder in Omsk galt ein zweimal niedrigeres Monatseinkommen als ausreichend, um zur Mittelschicht und somit zum Kreis der Befragten zu zählen.

Geringer Anteil an Gesamtbevölkerung

Marina Krasilnikowa, Forscherin des Lewada-Zentrums, sagte im Gespräch mit der Deutschen Welle, das, was man in Russland "Mittelschicht" nenne, sei in Wirklichkeit keine. "Nach dem Einkommen, der Ausbildung, dem sozialen und beruflichen Status, der Selbstidentifikation – nach diesen vier Kriterien kann man in jeder Gesellschaft irgendeine Gruppe festmachen", so die Expertin. Aber dies bedeute nicht, dass diese Gruppe vergleichbar sei mit jener Mittelschicht, wie man sie im Westen kenne. "Eine solche Mittelschicht haben wir nicht", unterstrich Krasilnikowa.

Die russische Mittelschicht, die Experten vor allem nach Einkommensgrenzen definieren, bestehe nur aus zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung. Das seien vor allem Beamte und erfolgreiche Geschäftsleute. Weder Ärzte, Lehrer, Ingenieure noch Verkaufsleiter würden diese Kategorie in Russland erreichen.

"Einblicke in das heutige Russland"

Der Leiter des EU-Russland-Zentrums, Fraser Cameron, meint aber, die Ergebnisse der Befragung ermöglichten durchaus neue Einblicke in das heutige Russland. Die Studie werde helfen, die Tendenzen und Stimmungen in der russischen Gesellschaft zu verdeutlichen. In Europa sei gerade die Mittelschicht der wichtigste soziale Indikator. Die Studie würde zudem dazu beitragen, die Arbeit des neuen russischen Präsidenten besser bewerten zu können. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung auf 60 Prozent zu erhöhen.

Jegor Winogradow