Die Medikamentensammler
Er rettet brauchbare Arzneimittel vor der Vernichtung und kümmert sich unter anderem darum, dass Bedürftige Medikamente erhalten, die sie sich nicht leisten können: der Verein „Medikamentenhilfe für Menschen in Not“.
Im Jahr 1996 begann alles: mit der Tanzpädagogin Sonne Leddin und einem kleinen Team von mehr als 30 Helferinnen und Helfern. Ihr Ziel: Bestimmte Medikamente vor der Vernichtung bewahren und sie an Menschen weitergeben, welche nicht genug Geld für eine medizinische Versorgung haben. Eigentlicher Auslöser für die Gründung der zunächst kleinen, privaten Organisation „Medikamentenhilfe für Menschen in Not“ war allerdings der Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren, erzählt Sonne Leddin:
„Das war die Zeit, wo wir die Bilder alle in den Zeitungen lasen und uns alle gefragt haben: ‚Mein Gott, wie können wir denn da bloß helfen?‘ Und dann lernte ich einen Hamburger Klinikarzt kennen, und der hat in dieser Kriegszeit Medikamente mit seinem PKW – und dann nachher später auch mit dem LKW – durch die Kriegslinien durch nach Jugoslawien runtergebracht.“
Die Lage im Kriegsgebiet sorgte auch in Deutschland für eine Welle der Hilfsbereitschaft. Nur, bloß, wie sollte man helfen? Für den Hamburger Arzt war die Antwort klar. Unbeeindruckt von den Kämpfen brachte er Medikamente in das Kriegsgebiet. Vier Jahre arbeitete Sonne Leddin mit ihm zusammen. Die anfangs kleine Organisation wuchs mit den Jahren. Seit 2010 ist sie als gemeinnütziger Verein eingetragen und hilft im In- wie im Ausland. Denn auch in direkter Nähe des Vereinssitzes, in Hamburg und Umgebung, gibt es viele Menschen, die dringend Medikamente brauchen, für die das Geld nicht reicht. Dazu gehören etwa Obdachlose, die in die Sprechstunden von ehrenamtlich tätigen Ärzten kommen. Und diese geben Arzneimittel an die Patienten ab, die der Verein gesammelt hat. Dabei handelt es sich vor allem um Medikamente, die aus unterschiedlichen Gründen nicht verkauft werden können, sagt Dr. Torsten Diederich, Schirmherr und einer der fachlichen Leiter der „Medikamentenhilfe für Menschen in Not“:
„Stellen Sie sich vor, ‘ne Palette kippt um, nicht, und die untersten Packungen werden leicht eingedrückt: Die müssen vernichtet werden. Und auch Fehlchargen quasi – verpackte Medikamente, deren Umverpackung, also der Karton, eingerissen ist oder eingedrückt ist. Also, wir haben die Medikamente, die sozusagen überzählig als Muster oder industrieller Ausschuss zur Verfügung standen, genommen und haben die dann verteilt.“
Die Medikamente, die der gemeinnützige Verein sammelt, sind eigentlich noch in Ordnung. Allerdings können sie nicht verkauft werden, weil etwa bei der Produktion Fehler gemacht wurden oder die Verpackung beim Transport beschädigt wurde. Die Pharmafirmen deklarieren, erklären, diese Medikamente dann zu Fehlchargen beziehungsweise zum industriellen Ausschuss, also zu fehlerhaften Produkten. Auch sogenannte Muster gehören zu den eingesammelten Medikamenten. Das sind kleine Mengen eines von den Behörden zugelassenen neuen Medikaments, das Ärzte von Pharmafirmen erhalten, um es bekannt zu machen und am Markt einzuführen. Im Rahmen von Hilfsprojekten dürfen alle diese Medikamente an Patientinnen und Patienten unter drei Voraussetzungen verteilt werden: erstens, dass der sogenannte Beipackzettel, der unter anderem Erklärungen zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen enthält, vorhanden ist; zweitens, dass das Arzneimittel selbst unbeschädigt und drittens, dass das Haltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen ist, die Wirksamkeit des Medikaments also noch gegeben ist. Der Verein „Medikamentenhilfe für Menschen in Not“ kann laut Sonne Leddin auf viele Unterstützerinnen und Unterstützer zurückgreifen:
„Wir haben die Erlaubnis, Medikamente zu sammeln – und zwar bei Ärzten zwischen Lüneburg und Hamburg. Da haben wir ein großes Netz von verschiedenen Arztpraxen, die uns ihre Ärztemuster schicken, oder wir holen sie auch ab. Wir haben verschiedene sogenannte Medikamentenkuriere – und die gehen in die Praxen ein- bis zweimal im Jahr und sammeln sie dort ein.“
Boten, Kuriere, holen die vielen verschiedenen Medikamente in Arztpraxen, bei Apotheken und bei Pharmafirmen ab. Dann müssen sie zunächst sortiert werden – ein oft mühsamer Job, sagt Sonne Leddin:
„Da sitzen wir am großen Tisch. Und da wird mit Lupe manchmal sogar und mit großer Brille genau geguckt: ‚Wie lange ist das Medikament noch haltbar? Ist es noch mindestens ein Jahr haltbar?‘ Es sind natürlich immer Analgetika, Antibiotika, aber auch bestimmte Herzmedikamente. Das sind so, sagen wir mal, die großen Renner, die immer gebraucht werden. Und egal für welches Projekt: Die sind immer aktuell.“
Medikamente, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, müssen entsorgt werden. Die, die noch brauchbar sind, werden in medizinische Fachgebiete aufgeteilt. Die großen Renner, also die Medikamente, die am häufigsten gebraucht werden, sind laut Sonne Leddin Analgetika, Schmerzmittel, und Antibiotika, die gegen Bakterien wirken. Die fachlich sortierten Medikamente werden in Kartons gepackt, die gegen Hitze und Kälte geschützt und deutlich beschriftet sind – auch in der jeweiligen Landessprache. Die Vorauswahl der Schachteln und Schächtelchen, der Tabletten, Tropfen und Salben erleichtert den Medizinern die Arbeit vor Ort, denn so haben sie schnelleren Zugriff auf die Mittel, die sie ihren Patienten verabreichen. Das gilt für Hamburg genauso wie für Afghanistan, für Litauen oder Polen, die Ukraine oder Tibet. Der Verein kann auf viele Jahre erfolgreicher Hilfe zurückblicken. Das eine oder andere Beispiel bleibt in Erinnerung, erzählt Sonne Leddin:
„Wir haben mal einem Arzt geholfen, nach Tibet Medikamente zu bekommen, der in 4000 Metern eine Krankenstation aufgebaut hat. Wir haben dafür gesorgt, dass er ein Mikroskop fand. Wir haben aber auch viermal in Argentinien geholfen.“
Die Hilfe des Vereins erstreckt sich nicht nur auf Medikamente, sondern auch auf Klinikmaterial wie Verbandsstoffe. Eher selten gehört auch mal ein Mikroskop, ein im Labor benutztes optisches Gerät, dazu. Damit konnte die „Medikamentenhilfe für Menschen in Not“ einem Arzt helfen, der in der Bergregion von Tibet eine Krankenstation aufgebaut, eine aus wenigen Räumen bestehende Einrichtung für Kranke errichtet, hatte. Solche Aktionen sind aber eher die Ausnahme. Das Hauptziel des Vereins ist und bleibt es, mit Medikamenten zu helfen, die eigentlich noch in Ordnung sind, aber sonst vernichtet würden. Denn mancher Patient, der mit den gesammelten Arzneimitteln behandelt wird, kann oft nicht einmal das Geld für eine Kopfschmerztablette aufbringen.
Autorinnen: Gudrun Heise, Fidaniya Mukhamadieva
Redaktion: Beatrice Warken
Arbeitsauftrag
Recherchiert in Kleingruppen im Internet, welche ehrenamtlichen Hilfsorganisationen es weltweit noch gibt. Wählt eine Organisation aus und stellt sie vor, indem ihr unter anderem folgende Fragen beantwortet:
1) Was ist ihr Hauptziel?
2) Um welche Projekte kümmert sich die Organisation?
3) Was denkt ihr, wann und wofür man spenden kann und sollte? Wie kann man Bedürftigen helfen, ohne Geld zu spenden?