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PolitikEcuador

Ecuador: die Knäste des Gemetzels

27. Februar 2021

In den Haftanstalten Ecuadors kommen bei Gewaltausbrüchen rivalisierender Banden Dutzende Gefangene ums Leben. In den Zellen wurden Schusswaffen, Macheten und Messer gefunden. Eine Katastrophe mit Ansage.

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Trauernde Angehörige vor dem Gefängnis in Guayaquil
Angehörige trauern um die toten Häftlinge in GuayaquílBild: Vicente Gaibor del Pino/REUTERS

Der Notruf aus dem Gefängnis von Guayaquíl kommt am Dienstagmorgen um 7.12 Uhr. Aus der Haftanstalt von Cuenca kurze Zeit später, um Punkt 9 Uhr. Und aus dem Knast von Latacunga, dem angeblich sichersten Gefängnis Ecuadors, um 10.29 Uhr. Doch als die Polizisten versuchen, sich Zutritt zu verschaffen, sind alle Türen blockiert oder sie kommen nicht an den gelegten Feuern am Eingang vorbei.

Währenddessen spielen sich im Inneren Bilder wie aus einem Splatter-Film ab: Gefangene werden erhängt, enthauptet und zerstückelt. Mit Motorsägen. Viele Tote werden später angezündet. Und alles per Video in Echtzeit aufgenommen. Auf den Bildern sieht man keinen einzigen Wachmann, hört keine Notrufsirene und von einem Hubschrauber, der von oben versucht, den Gemetzeln endlich ein Ende zu bereiten, ist weit und breit keine Spur. Innenminister Patricio Pazmiño sprach von einer konzertierten Aktion krimineller Organisationen.

Die Schreckensbilanz aus Ecuador: 78 Tote, als Ergebnis von Massakern zwischen rivalisierenden Banden. Praktisch gleichzeitig in drei verschiedenen Orten. Und überall hat die Polizei nichts geahnt, war zu spät und konnte nur tatenlos zusehen?

"Apokalypse now” - Gefängnisse in Ecuador sind Niemandsland

Wenn jemand weiß, was in Ecuadors Gefängnissen - oder besser, in der Politik des Strafvollzugs - schief läuft, dann ist es Stefan Krauth. Der deutsche Jurist hat als Entwicklungshelfer die Gefängnisverwaltung Ecuadors beraten, hat die Haftanstalten von innen gesehen und mit Insassen gesprochen, die dort teilweise aus fragwürdigen Gründen einsitzen und unter katastrophalen Bedingungen jeden Tag um ihr Leben fürchten.

 Jurist Stefan Krauth
"In den Gefängnissen Ecuadors herrscht ein totales Desaster und absolutes Chaos" - Jurist Krauth Bild: Privat

Und so ist Krauth auch alles andere als überrascht über das beispiellose Morden: "Es gibt Gefängnisse, da ist es 'Apocalypse Now', dort drin zu sein. Die Zellen sind überall komplett überfüllt. Es geht nur ums Überleben, der Knast in Ecuador ist Niemandsland.”

Wo soll man anfangen bei den Gründen, die den Massakern vom Dienstag den Boden bereitet haben? Bei der ecuadorianischen Regierung, die noch vor vier Jahren 153 Millionen Dollar pro Jahr für seine Gefängnisse ausgegeben hat, jetzt aber nur noch 91 Millionen Dollar zahlen will?

Beim Personal? Derzeit ist jeder Gefängniswärter in Ecuador für 26 Häftlinge verantwortlich. 26. Die Vereinten Nationen empfehlen indes ein Verhältnis von 1:10. In Ecuador fehlen mehr als 3.000 Gefängniswärter.

Oder bei den hoffnungslos überbelegten Gefängnissen? 2009 waren gerade einmal 11.500 Menschen in Ecuador im Knast, heute sind es 40.000. Jeder Dritte von ihnen sitzt in Untersuchungshaft. Wenn man Pech hat, landet man für einen kleinen Ladendiebstahl oder den Verkauf von Marihuana in der Zelle eines Mörders.

Ecuador eifert bei der Sicherheitspolitik dem Vorbild USA nach

"Ich bin mir sicher, dass die Hälfte der Gefangenen in Deutschland nicht einsitzen würde, weil es sich oft um kleine Drogendelikte, also Bagatelldelikte handelt”, sagt Krauth, "aber dann haben die USA gesagt, wenn Ihr am Krieg gegen die Drogen teilnehmen wollt, wieso führt Ihr kein Schnellverfahren ein? Und so kann man in Ecuador innerhalb von 24 Stunden zehn Jahre bekommen.”

Gefängnis in Latacunga
"Je größer ein Gefängnis, desto schwieriger ist es, es zu kontrollieren. Trotzdem wurde Latacunga gebaut" - Stefan KrauthBild: picture-alliance/dpa/R. Kaufhold

Ecuador hat anscheinend bei der Politik der harten Hand gegenüber Drogenbesitz und -handel eifrig bei den Vereinigten Staaten zugehört.

Die Banden in Ecuador heißen "Los Lobos”, also "Die Wölfe”, die "Latin Kings” oder die "Choneros” aus dem Kaff Chone an der Küste Ecuadors - letztere ist die mächtigste kriminelle Organisation des Landes, die in Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Auftragsmorde verwickelt ist. Die Morde in den Haftanstalten sind in ihrer Brutalität beispiellos. 2019 wurden dem Anführer der "Choneros” zunächst die Beine und dann die Arme abgehackt.

Anschließend filmten die Täter auch noch die Enthauptung, die Bilder kursierten lange Zeit im Netz. Besonders makaber: Der Kopf des Opfers diente danach auf dem Gefängnishof als Fußball. Alles kein Zufall, sagt Krauth: "Die Polizei hat am helllichten Tag einen Flügel offen gelassen, damit die Bandenmitglieder da hereinmarschieren konnten.”

Welche Rolle spielt die Polizei bei den Massakern?

Und so stellt sich die Frage, welche Rolle die Polizei, welche die Eingänge der Gefängnisse kontrolliert, bei dem Massaker mit 78 Toten, gespielt hat. Will man eine Haftanstalt in Ecuador betreten, wird man von oben bis unten durchleuchtet. Körperscanner, Metalldetektoren, auch die Schuhe müssen ausgezogen werden.

”Du kannst noch nicht einmal eine Münze mit hereinnehmen", sagt der deutsche Jurist, "das führt dann dazu, dass die Pflichtverteidiger immer draußen vor dem Gefängnis einige Dollar deponieren, um wieder mit dem Taxi zurückfahren zu können."

Woher stammen also dann die vielen Messer, die Macheten und Motorsägen, mit denen sich die Banden gemeuchelt haben? ”Es ist unvorstellbar, dass ohne das Wissen der Polizei da irgendeine Waffe hineinkommt", sagt Stefan Krauth, ”die Polizei ist in Ecuador Teil der organisierten Kriminalität und eine mafiöse Organisation.”

Ecuadorianische Soldaten im Einsatz in Guayaquíl
Selbst Soldaten kommen zur Hilfe - in der Küstenstadt GuayaquílBild: Marcos Pin Mendez/AFP

Ob das südamerikanische Land aus den Morden die richtigen Schlüsse zieht, ist trotzdem fraglich. Viele der Häftlinge hoffen sicherlich auf einen Sieg des linken Präsidentschaftkandidaten Andrés Arauz bei den Stichwahlen am 11. April gegen seinen neoliberalen Konkurrenten Guillermo Lasso. Und eine neue Politik. Doch angesichts der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise des Landes dürfte eine Reform des Strafvollzugs ganz unten auf der Agenda stehen.

Wie Ecuador seine Politik des Strafvollzugs ändern müsste

Müsste Stefan Krauth die Gefängnispolitik umkrempeln, würde er zunächst einmal die Haftbedingungen verbessern. Das fängt beim Zugang zu Trinkwasser an und hört bei den Matratzen auf. In Sichtweite der Haftanstalten floriert der Polsterhandel - die  Angehörigen lassen die Matratzen in den Knast hineinschmuggeln, damit die Gefangenen nicht mehr auf dem Boden schlafen müssen. 

Er würde das Wachpersonal von derzeit gerade einmal 1600 Bediensteten aufstocken und sie pünktlich bezahlen. Diese müssen manchmal monatelang auf ihren Monatslohn von 1.000 Dollar warten und sind deswegen besonders empfänglich für jede Art von Bestechung. Krauth würde ein Zeugenschutzprogramm auflegen, das diesen Namen verdient, und nicht den Gefangenen nur vorgaukelt, am nächsten Morgen mit einem gültigen Visum in Miami aufzuwachen.

Der Jurist würde die Corona-Bestimmungen ändern, damit keine Inhaftierten mehr sterben müssen, weil sie wegen eines Besuchsverbots nicht mehr an ihre lebensrettenden Medikamente kommen. Er würde auch auf eine Politik der Resozialisierung setzen, die in Ecuador nur auf dem Papier existiert.

Vor allem aber würde Stefan Krauth jeden vierten Gefangenen in die Freiheit entlassen. Also diejenigen begnadigen, die wegen kleiner Drogendelikte einsitzen. "Einfach einen Schnitt machen. Wir haben wenig Geld, wir haben wenig Personal, es funktioniert eh' nicht. Also nützen wir die wenigen Ressourcen, die wir haben, geschickter. Du kannst nicht einfach 40.000 Menschen einsperren und so tun, als würde das nichts kosten."