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Libertarismus in USA

8. Januar 2012

Nach den Wahlen in Iowa gehört Kandidat Ron Paul zu den "Top Drei" der Republikaner, ein Vertreter des Libertarismus. Zur Attraktivität der politischen Philosophie USA-Experte Patrick Keller im Interview mit DW-WORLD.DE.

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Ron Paul (Foto: reuters)
Mit 21 Prozent in Iowa lag der Republikaner Ron Paul auf dem dritten PlatzBild: dapd

DW-WORLD.DE: Was genau heißt 'Libertarismus'?

Patrick Keller: In erster Linie stehen die amerikanischen Libertarier für einen Staat, der sich stark zurücknimmt und den Einzelnen das größtmögliche Maß an Freiheit und Verantwortlichkeit überträgt. Sie vertreten den ur-amerikanischen Freiheitsbegriff in extremer Ausprägung: Libertarier fordern zum Beispiel die drastische Reduzierung oder Abschaffung von Steuern und dramatische Einschnitte bei den Staatsausgaben für Verteidigung, Außenpolitik, Entwicklungshilfe und staatliche Führsorge. Diese Dinge liegen ihrer Auffassung nach in der Verantwortung der Einzelnen und der bundesstaatlichen Regierungen.

Sie haben gerade den Ausdruck 'ur-amerikanisch' gebraucht, und in der Tat fällt es schwer, sich eine vergleichbare Polit-Ideologie in Europa vorzustellen. Wie und warum ist diese Strömung in den USA entstanden?

Der Libertarismus lässt sich nur aus der amerikanischen Geschichte heraus verstehen. Er hat viel zu tun mit der Amerikanischen Ausnahme – also mit der Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten keine Nation wie jede andere sind. In Europa wird das oft als Arroganz missverstanden.

Historiker verwenden diesen Ausdruck jedoch lediglich für die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten von europäischen Flüchtlingen begründet wurden, die sich zu einer neuen Gesellschaft zusammengeschlossen haben.

Natürlich gab es amerikanische Ureinwohner, und wir dürfen die Massaker an ihnen nicht vergessen – auf der anderen Seite aber war das amerikanische Volk zunächst eine Gesellschaft im "Naturzustand", im Sinne von John Locke und von anderen Philosophen der Aufklärung. Es gab keine etablierten Traditionen, keine starke, von staatlichen Strukturen gestützte Kirche und auch keinen Adel. Diese Freiheit ist in Amerika einzigartig, und sie bildete den Ausgangspunkt für die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und für die Verfassung. Die Amerikaner haben beschlossen, ihre Gesellschaft auf unveräußerlichen Rechten zu gründen, die der Person immanent sind – also nicht dem Staat, Gott oder dem Adel. Und diese Vorstellung ist auch der Ansatzpunkt des Libertarismus.

Wie grenzt sich der Libertarismus von der jüngeren Tea-Party-Bewegung ab, die auch immer wieder als konservativ und den Freiheitsrechten verpflichtet beschrieben wird?

Dr. Patrick Keller, US-Experte, Konrad-Adenauer-Stiftung Koordinator Außen- und Sicherheitspolitik (Foto: Konrad-Adenauer-Stiftung)
Patrick Keller ist Amerika-Experte bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in BerlinBild: Patrick Keller/Konrad-Adenauer-Stiftung

Die Graswurzelbewegung "Tea Party" hat eine Menge Facetten. Sie setzt sich aus ganz normalen, durchschnittlichen amerikanischen Bürgern zusammen. Seit der Amerikanischen Revolution haben immer wieder vergleichbare Bewegungen versucht, sich durchzusetzen.

Man kann sie als Reaktion auf den Erfolg von Barack Obama verstehen, vor allem auf politische Entscheidungen zugunsten eines starken Staates – etwa die, die Finanzkrise über eine höhere Staatsverschuldung zu finanzieren, oder die Reform des Gesundheitssystems.

Aus libertaristischer Perspektive bedeutet das, in den Vereinigten Staaten eine europäisch inspirierte Sozialdemokratie entstehen zu lassen. Und dagegen wehrt sich die "Tea Party" gleich doppelt: Zum einen durch den Libertarismus, wie eben dargelegt. Zum anderen gibt es noch eine konservative Antwort – und hier liegt beispielsweise auch der Unterschied zwischen Ron Paul und Michelle Bachmann. Die Konservativen berufen sich stärker auf das Christentum. Sie sagen zwar, dass sie einen schlanken Staat möchten, sprechen sich aber zugleich für enorme Aufwendungen in der Sicherheitspolitik aus, um Amerikas Position der Stärke gegenüber anderen Ländern zu erhalten. Das hat mit Libertarismus nichts zu tun - das ist konservativ. Und hier liegen auch die Gründe für Spannungen mit der "Tea Party".

Es fällt nicht leicht, die Libertarier in das übliche amerikanische Links-Rechts-Parteienschema einzuordnen.

Das stimmt. Im klassischen politischen Spektrum lässt sich der Libertarismus schwer verorten. In ihrem Staatsbegriff und in ihren wirtschaftspolitischen Ideen liegen die Libertarier rechts außen, weil sie die linke Idee eines starken Wohlfahrtsstaates, der die Schwächsten der Gesellschaft unterstützt, scharf zurückweisen. Andererseits sind sie aber auch ultra-liberal, weil sie jeden Eingriff des Staates in den persönlichen Bereich ablehnen, ganz egal, ob es um Waffenbesitz oder um Drogenkonsum geht. Das übliche Rechts-Links-Schema passt daher nicht.

Lassen Sie uns über die demographische Zusammensetzung der Gruppierung sprechen. Demnach ist der typische Libertarier überdurchschnittlich gebildet, wohlhabend, männlich und weiß. Ist das richtig?

Die "Tea Party" ist etwas heterogener, aber auf die Libertarier trifft das absolut zu. Das liegt zum einen daran, dass der Libertarismus intellektuell sehr anziehend ist. Um der libertaristischen Vorstellung von amerikanischer Tradition entgegenzutreten, muss man schon philosophische Argumente aufbieten. Und gebildeten Menschen gefällt es natürlich, über so generelle Fragen nachzudenken. Zum anderen ist der Libertarismus aber auch unpraktisch und losgelöst von jeder amerikanischen Tradition der letzten fünfzig Jahre. Oberflächlich betrachtet könnten einem die Libertarier daher auch ein bisschen durchgeknallt vorkommen.

Inwiefern ist der Präsidentschaftskandidat der Republikaner Ron Paul ein typischer Libertarier? Momentan hat er eher das Image eines Jefferson Smith aus dem Film "Mr. Smith geht nach Washington", also das eines ehrlichen, fast unbeholfenen Außenseiters, der sich in der korrupten Welt der Politik durchschlägt. Ist da etwas dran?

Ich finde es immer wieder faszinierend, dass es in Amerika Menschen wie Ron Paul und seine Kongressmannschaft gibt, die schon Jahre in Washington sind und trotzdem als politische Außenseiter vermarktet werden.

Er spielt diese Rolle ganz großartig. Da er schon etwas älter ist, kommt er rüber wie ein ergrauter Staatsmann, der schon alles gesehen und nichts zu verlieren hat, und der daher voll für die libertaristischen Prinzipien einstehen kann.

Er verkauft seine Botschaften mit viel Esprit und rhetorischer Gewandtheit, und grenzt sich so auch gegen die Redner der "Tea Party" ab, die oft schlechtere öffentliche Redner sind. Sein Auftreten ist das eines charmanten Onkels, und besonders jüngere Wähler der Republikaner schätzen ihn, weil sie ihn für eine echte Alternative halten – ganz ähnlich, wie es vor vier Jahren bei den Demokraten und Barack Obama war.

Das funktioniert nun auch bei Paul, denn er stellt tatsächlich einen Politikertypus dar, wie wir ihm in den letzten 60 Jahren in Washington nicht begegnet sind. Ob er seine Visionen auch im Kongress durchsetzen könnte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber als Person hat er den Reiz eines Außenseiters mit komplett neuen Ideen, die er geschliffen vertritt.

Trotzdem, und trotz seines guten Abschneidens in Iowa, ist es nur schwer denkbar, dass er von den Republikanern wirklich nominiert wird. Können Sie sich vorstellen, dass er als Kandidat einer dritten Partei antritt? Wofür steht er?

Paul ist (1988, Anm. d. Red.) schon einmal für die libertaristische Partei angetreten, wurde damals aber kaum wahrgenommen. Inzwischen ist er viel bekannter. Falls er sich also entscheidet, als Kandidat einer Drittpartei anzutreten, würde es ihm vermutlich gelingen, Wahlkampfmittel zu akquirieren und ein paar Stimmen zu bekommen.

Ich glaube aber nicht, dass das ganz oben auf Ron Pauls politischer Agenda steht. Ich denke, er möchte vor allem die libertaristischen Ideen verbreiten, und darin hat er bereits riesige Erfolge erzielt – schon vor dem Vorwahlkampf der Republikaner, der durch sehr schwache Kandidaten gekennzeichnet war. Ron Paul war einer der ganz wenigen, die hier erkennbar für eine klare Position standen. Er brachte andere dazu, ihre Standpunkte ebenfalls klarer abzustecken. Allein dadurch hat er schon sehr zu einem Umschwung der politischen Stimmungslage in Amerika beigetragen

Der Diskurs der Republikaner ist nicht mehr derselbe wie vor vier Jahren, als die Altlasten von George W. Bush noch spürbar waren. Inzwischen sprechen alle republikanischen Kandidaten davon, das Staatsdefizit zu reduzieren, den Einfluss des Staats herunterzuschrauben und die Ausgaben zu verringern, auch die für das Militär. Für all diese Ideen steht Paul, wenn auch in ihrer radikalen Form. Ich denke, dass er eines seiner wichtigsten politischen Ziele bereits erreicht hat, indem er die Debatte in diese Richtung beeinflusst hat.

Patrick Keller ist USA-Experte und Koordinator für Außen- und Sicherheits-Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

Die Fragen stellte Jefferson Chase
Redaktion: Michael Knigge / Johanna Schmeller