Die dunkle Geschichte der Berliner Charité
Viele deutsche Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen waren in Verbrechen der Nationalsozialisten verwickelt. Erst spät begannen sie, ihre dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten – so auch die berühmte Charité in Berlin.
Nicht nur Unternehmen oder die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland waren an Verbrechen der Nationalsozialisten entweder selbst beteiligt oder haben sie stillschweigend geduldet, sondern auch deutsche Wissenschaftseinrichtungen. So wurden zum Beispiel Experimente in Konzentrationslagern durchgeführt, Zwangsarbeiter in den Hochschulkantinen beschäftigt oder Professoren entlassen, weil sie Juden waren. Nach Jahrzehnten der Verharmlosung haben manche Wissenschaftseinrichtungen damit begonnen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, sie aufzuarbeiten. Als eine der ersten Einrichtungen ließ die Max-Planck-Gesellschaft 1997 eine Arbeitsgruppe zur Erforschung ihrer eigenen Vergangenheit einrichten. Der Berliner Wissenschaftshistoriker Rüdiger vom Bruch, der sich schon viele Jahre mit der NS-Vergangenheit deutscher Hochschulen beschäftigt, meint, diese Initiative habe den Anstoß gegeben für andere:
„Das war, glaube ich, ein ganz entscheidender Durchbruch. Und dann kam auf breiterer Front, dass andere Institutionen und Unternehmen gesagt haben: ‚Wir wollen uns der Vergangenheit stellen‘. Nicht vielleicht unbedingt aus einem persönlichen Schuldgefühl heraus, sondern weil öffentliche Angriffe so stark geworden waren, dass man meinte, es ist besser, wenn wir selber eine neutrale oder unbefangene Untersuchung von Fachhistorikern in Auftrag geben.“
Zwar entstanden schon in den 1970er-Jahren Studien über Universitäten, doch waren diese dem Engagement einzelner Wissenschaftler zu verdanken. Erst seit Ende der 1990er-Jahre sind deutsche Hochschulen bereit, sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Max-Planck-Gesellschaft brachte nach Ansicht von Rüdiger vom Bruch den Durchbruch, sorgte dafür, dass viele andere ihr folgten. Es geschah auf breiter Front. Der wesentliche Grund aber war nicht, dass man sich schuldig fühlte. Es geschah nicht aus einem Schuldgefühl heraus. Vielmehr handelte man erst wegen öffentlicher Kritik. Und damit man nicht als befangen, als nicht objektiv genug, galt, wurden Fachhistoriker beauftragt, die neutral waren. Aber warum begann die Aufarbeitung erst so spät? Rüdiger vom Bruch hat eine Erklärung:
„Weil zum Teil verehrte Lehrerpersönlichkeiten betroffen waren, wo man sich nicht getrauthat, Fragen zu stellen. Ein Punkt, den wir immer wieder in allen möglichen Fächern haben: Dass die sogenannten oder vermeintlichen Lichtgestalten des Faches, die scheinbar mit NS-Ideologieverbrechen nichts zu tun hatten, sehr viel mehr betroffen waren als man denken kann.“
In der Wissenschaft hielt sich lange Zeit die Überzeugung, nicht in die Nazi-Ideologie verwickelt gewesen zu sein. Dabei zeigten viele Wissenschaftler früh Sympathie mit den Nazis und stellten ihre Arbeit in den Dienst des Regimes. Auch an der Charité, einer der ältesten und berühmtesten Universitätskliniken Deutschlands, fanden Rassenforschung, Menschenversuche oder Zwangssterilisationen statt. Von den nicht-jüdischen Ärzten wagte es kaum jemand, darüber zu sprechen, Fragen zu stellen oder sich öffentlich gegen den Nationalsozialismus zu stellen. Denn häufig betraf es sogenannte Lichtgestalten, also Personen, die wirklich sehr anerkannt waren oder es scheinbar, vermeintlich, waren. So unterstützten selbst berühmte Wissenschaftler wie der Chirurg Ferdinand Sauerbruch oder der Psychiater Karl Bonhoeffer politische Vorhaben der Nationalsozialisten wie Zwangssterilisationen oder Menschenversuche in den Konzentrationslagern. Beide waren an der Charité beschäftigt. Auch sie arbeitet ihre Vergangenheit auf – mit dem Projekt „GeDenkOrt.Charité – Wissenschaft in Verantwortung“. Mit dem 2013 gestarteten Projekt erinnert sie an ihre jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So werden diese Menschen und ihre Arbeit auf Gedenksäulen vorgestellt. Der Chef der Charité, Professor Dr. Karl Max Einhäupl, erzählt, welche Ziele man verfolgte:
„Eigentlich war der ursprüngliche Gedanke, dass wir als Charité schon etwas ins Leben rufen müssen, was von namhaften Künstlern in einer durchaus sichtbaren Form dargestellt ist. Wir wollen das Ganze auch verbinden mit einem musealen Teil, in dem aber auch ein Lehrpfad entsteht für junge Studierende, für junge Ärztinnen und Ärzte, die dieses auch zum Anlass nehmen sollen, darüber nachdenken: ‚Wie kommt man eigentlich als Arzt dazu, sich in solche Vergehen einwickeln und verwickeln zu lassen‘.“
Das, was an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erinnerte, sollte etwas Besonderes sein. Man wollte etwas schaffen, ins Leben rufen, das von bekannten, namhaften, Künstlern erstellt wurde. Und so entstanden die Gedenksäulen. Das Projekt soll auch noch ein Museum sowie einen Lehrpfad beinhalten, einen Weg, an dem einzelne geschichtliche Stationen beschrieben werden. Ziel ist laut Professor Karl Max Einhäupl, dass sich die Ärzte von heute und von morgen die Frage stellen: Wie haben es die Nationalsozialisten geschafft, etwa auch Mediziner für sich zu gewinnen, sie einzuwickeln. Das Projekt wird betreut von Udo Schagen, Historiker im Fachbereich Medizingeschichte der Charité. Für die Gedenksäulen hat er die Namen von Mitarbeitern der Charité zusammengetragen, die nach 1933 isoliert und entlassen wurden und von denen viele Deutschland verlassen mussten. Allerdings ist die Recherche – wie Udo Schagen sagt – noch längst nicht abgeschlossen:
„Wir wissen inzwischen von weit über 180 jüdischen Dozenten und Professoren, darunter sind nur sehr wenige Assistenten. Und wir wissen auch nicht, wie viele Jüdinnen und Juden aus den Pflegeberufen entlassen wurden. Das waren mit Sicherheit mehr als doppelt so viele, weil traditionell im ärztlichen und in den Pflegeberufen die Zahl der jüdischen Mitarbeiter sehr hoch war.“
Die Medizinhistoriker haben das Schicksal von mehr als 180 hochrangigen jüdischen Medizinern verfolgen können. Über das Schicksal jüdischer Assistenzärzte, Krankenschwestern und Pfleger ist dagegen wenig bekannt. Vielen Dozenten und Professoren gelang die Flucht ins Ausland, weil sie meist genug Geld besaßen und persönliche Kontakte hatten. Allerdings war der berufliche Neuanfang in der neuen Heimat aus verschiedenen Gründen nicht einfach, sagt Udo Schagen:
„Sehr häufig kamen sie in Länder, wo sie ihren ärztlichen Beruf nicht ausüben durften, teilweise nochmal studieren mussten, teilweise in Abhängigkeit von anderen Menschen leben mussten.“
Die Mediziner durften entweder gar nicht arbeiten oder sie lebten in Abhängigkeit von anderen, waren darauf angewiesen, dass diese ihnen etwa eine Arbeit verschafften. Manche mussten sogar trotz eines Hochschulabschlusses noch einmal studieren. Dass sich Studierende heute mit dem Verhalten von Ärzten im Dritten Reich auseinandersetzen, ist für Charitéchef Karl Max Einhäupl ein wichtiger Teil der Ausbildung in medizinischer Ethik:
„Wir sind überzeugt davon, dass solche Verstöße häufig beginnen mit einer kleinen Verschiebung von ethischen Normen. Und solche kleinen Verschiebungen von ethischen Normen finden möglicherweise in vielen Bereichen – auch der Medizin – statt. Und man muss sich frühzeitig darüber klar werden, dass das der erste Schritt in eine Entwicklung sein kann, die dann unter Umständen sogar mal historische Dimensionen annehmen kann – wie das eben im Dritten Reich der Fall gewesen ist.“
Das Projekt „GeDenkOrt.Charité“ soll nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern auch einer neuen Generation von Ärzten als Mahnung dienen – und vielleicht auch anderen Berufsgruppen. Denn oft beginnt ein bestimmtes Verhalten, wie Professor Karl Max Einhäupl sagt, mit einer kleinen Verschiebung ethischer Normen. Ein Verhalten, das normalerweise als falsch bewertet würde, wird plötzlich als normal angesehen. Und mehrere kleine Verschiebungen können sich dann sogar zu einer Größe entwickeln, historische Dimensionen annehmen, die – wie im Nationalsozialismus – unter anderem zur Ermordung von Millionen Menschen führte.
Arbeitsauftrag
Schaut euch das Video „Deutsche Universitäten unterm Hakenkreuz“ an: http://bit.ly/1N6GAUw. Erstellt eine Zusammenfassung, die am Ende eine Begründung enthalten sollte, warum sich Hochschulen ohne Widerstand dem nationalsozialistischen Regime unterordneten.