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Die Deutschen und ihr "dreifaches Wunder"

Paula Rösler
3. Oktober 2018

Der britische Politiker und Ökonom Stephen Green ist Deutschland-Fan und hat darüber ein Buch geschrieben. Im Gespräch mit der DW erklärt er, was er an den Deutschen schätzt und was für ihn typisch deutsch ist.

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Buchvorstellung von Stephen Green
Bild: picture-alliance/dpa/K.Nietfeld

Deutsche Welle: Stephen Green, Sie kennen Deutschland recht gut und schätzen die Deutschen. Im vergangenen Jahr haben Sie ein Buch veröffentlicht mit dem Untertitel "Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit". Was genau stimmt Sie so positiv? 

Zuerst einmal ist Deutschland ein schönes Land. Einen Großteil meines Lebens habe ich damit verbracht, es zu erkunden. Ich habe wahrscheinlich mehr Teile des Landes gesehen als viele Deutsche. Und zweitens hat Deutschland eine tief verwurzelte und faszinierende Kultur, die sich in der Architektur, in der Musik, in der Literatur, in der Philosophie und in den Denkweisen über die Welt ausdrückt.

In Ihrem Buch loben Sie die klassischen Musiker, die Philosophen und die Schriftsteller. Wo sehen Sie die Deutschen heute?

Ich denke, dass die Deutschen in mancher Hinsicht als Vorbild genommen werden können. Eines der bemerkenswertesten Dinge im heutigen Deutschland ist das dreifache Wunder, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg ereignet hat. Erstens, die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, mit der die meisten Menschen vertraut sind.

Zweitens denke ich, dass es auch ein politisches Wunder gibt, das nicht angemessen gefeiert wurde: Was seit 1949, dem Beginn der Bundesrepublik Deutschland, passiert ist, ist die Entstehung einer der am tiefsten verwurzelten und stabilsten Demokratien der Welt. Das war angesichts der Vorgeschichte des Dritten Reiches und davor der gescheiterten Weimarer Republik nicht unbedingt vorhersehbar.

Und drittens, die Art und Weise, wie Deutschland mit den dunkelsten Aspekten seiner Vergangenheit umgegangen ist. Das geschah nicht über Nacht; es brauchte Jahrzehnte schmerzhafter Gewissenserforschung, aber es geschah erstaunlich gründlich und unerbittlich. Ich denke, das ist ein Vorbild für die Menschheit - nicht nur für die üblichen Verdächtigen (Japan, Russland), sondern auch für Großbritannien mit seiner langen Geschichte in Irland oder Frankreich mit seiner algerischen Vergangenheit zum Beispiel.

Symbolbild Deutschland Europa Flagge
Europa bald ohne Großbritannien? "Tragisch", findet Stephen GreenBild: picture-alliance/dpa

Welche drei positiven Eigenschaften würden Sie den Deutschen zuschreiben?

Drei positive Eigenschaften, lassen Sie mich überlegen... Lassen Sie es mich so sagen: Es ist keine direkte Antwort auf diese Frage, da ich denke, dass es viel mehr als drei positive Eigenschaften gibt. Aber ich denke, was die Deutschen einzigartig macht, ist der große Drang, die Dinge richtig zu machen. Das zeigt sich im Erfolg der deutschen Industrie und des deutschen Handels, es zeigt sich in der Art und Weise, wie sich deutsche Philosophen mit metaphysischen und moralischen Fragen gequält haben, es zeigt sich in der Kultur, konkret in der Musik.

Es gibt eine Intensität im Umgang der Deutschen mit praktischen, strategischen und großen philosophischen Fragen. Es ist eine andere Einstellung als die der Briten oder Franzosen. Und ich denke, dass das Land, das sich zukünftig am ehesten wirklich intensiv und dauerhaft für den europäischen Zusammenhalt einsetzt, Deutschland sein wird. Ich bedauere zutiefst die britische Entscheidung, sich zurückzuziehen - was für Großbritannien, für Deutschland und für Europa im Allgemeinen tragisch ist.

Welche negativen Eigenschaften fallen Ihnen denn zu Deutschland und den Deutschen ein?

Ich versuche in Teilen meines Buches, einige der Merkmale der deutschen Stimmung im 19. Jahrhundert zu erforschen, die zu den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts (den beiden Weltkriegen und dem Nationalsozialismus, Anm. d. Redaktion) führte. Damals gab es ein fast unbestrittenes Bekenntnis zum Gehorsam, ein sehr tief verwurzeltes Pflichtgefühl, das Gefühl der Opferbereitschaft aus der früheren Geschichte - all das schuf gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine gefährliche Atmosphäre. Aber die bemerkenswerte Geschichte ist für mich, wie radikal sich das alles verändert hat. Das Deutschland von heute ist völlig anders. Und diese Geschichte der Erneuerung, diese Geschichte der Auferstehung ist wirklich außergewöhnlich.

Was ist Ihre Vision für die Zukunft Deutschlands und seiner Menschen?

Deutschland ist ein Land mit dem stärkst möglichen Engagement für die Demokratie. Aber natürlich gibt es keinen Raum für Selbstgefälligkeit. Die Flüchtlingskrise und die Reaktion Deutschlands darauf haben zu Spannungen und Stress geführt. Trotzdem kann Deutschland stolz darauf sein, wie es mit dieser Krise umgegangen ist. Wenn ich die deutsche Antwort im Jahr 2015 mit der in meinem eigenen Land vergleiche, die gemein und restriktiv war, schäme ich mich, Brite zu sein.

Zwar sind die Ereignisse in Chemnitz auch eine Folge dieser deutschen Antwort. Aber die Wahrheit ist, dass es eine großzügige menschliche Geste in einer Stunde der Tragödie und Not war. Es gab Zeiten in der Geschichte, in denen Deutschland der Welt eine schreckliche Version von Führung gezeigt hat. Aber die Führung, die es gegenüber Flüchtlingen gezeigt hat, ist ein Beispiel für uns alle. Ich hoffe, dass Deutschland weiterhin den Mut hat, sich den Dämonen zu stellen und eine Führung zu zeigen, die auf Großzügigkeit und Mut basiert. Das ist es, was Europa braucht - jetzt mehr denn je.

Das Gespräch führte Paula Rösler.

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