„Die deutsche Einheit braucht noch etwas mehr Zeit“
Beim Mauerfall war sie 13, voller Euphorie, aber auch mit etwas Zukunftsangst: die Politologin Judith Enders. Ist mittlerweile „zusammengewachsen, was zusammengehört“? Sie meint: noch nicht ganz.
Die Bilder gingen um die Welt: Menschen, die auf der Berliner Mauer sitzen, dem sichtbaren Symbol für die jahrzehntelange Teilung Deutschlands. Sie schwingen Fahnen, umarmen sich, sind voller Euphorie, einem Zustand optimistischer Begeisterung und überschwänglicher Freude. Mit Meißeln Meißel, - (m.) ein Werkzeug, das an einem Ende zugespitzt ist und v. a. für die Bearbeitung von Stein und Metall verwendet wird und anderen Geräten werden Steine aus dem am 13. August 1961 errichteten Bauwerk geklopft. Zu diesem Zeitpunkt war sie dreizehn Jahre alt, ein Teenager: die heutige Politologin Judith Enders. Sie erinnert sich heute gut an die Gefühle, die sie damals hatte:
„Also, ich muss sagen, es war eine wahnsinnige Euphorie, gepaart mit einer vielleicht geahnten Verunsicherung und einem Gefühl von: ‚Oh, jetzt ist was ganz Wichtiges passiert‘. Am 9. November schon hab ich gedacht: ‚Oh, da war jetzt was ganz Entscheidendes‘. Und es war natürlich an dem Zeitpunkt nicht vorauszusehen, wo das alles hinführt, aber es war ein Gefühl, eine Intuition, und das ist so stark, dass ich heute noch weiß, wie es sich angefühlt hat … gegen Abend am 9. November.“
Euphorie kam bei sehr vielen Noch-DDR DDR (f., nur Singular) Abkürzung für: Deutsche Demokratische Republik (Staat von 1949-1990) -Bürgerinnen und -Bürgern unter anderem auch deshalb auf, weil sie nun in Freiheit leben können würden. Sie müssten nicht mehr in einem von der Staatssicherheit, der Stasi Stasi (f., nur Singular) Abkürzung für: die Staatssicherheit; der Geheimdienst der DDR zwischen 1950-1990 , überwachten Staat leben, in dem Meinungsfreiheit ein Fremdwort war – obwohl die meisten wussten, wie sie mit der Überwachung durch die Stasi umzugehen hatten. Denn sie waren, so Judith Enders, „gelernte DDR-Bürger“:
„Jede Person, die in der DDR gelebt hat, wusste, dass die öffentliche und die private Meinung ein wenig getrennt sind. Auch als Kind hat man das schon gelernt, dass man bestimmt schon, sobald man in der Schule war, wusste: ‚Ich muss überlegen, wie ich auf bestimmte Fragen antworte‘. Zum Beispiel: ‚Um welche Uhrzeit werden bei euch Nachrichten geguckt?‘ Die DDR sendete um 19:30 Uhr und die Bundesrepublik um 19:00 Uhr oder um 20:00 Uhr. Und da war dann klar: Zu Hause wird Westfernsehen geguckt – was nicht so gern gesehen war.“
Hatte man sich sich verplappern umgangssprachlich für: versehentlich über etwas sprechen, das besser geheim geblieben wäre als Kind dann doch verplappert sich verplappern umgangssprachlich für: versehentlich über etwas sprechen, das besser geheim geblieben wäre , dass man „Westfernsehen“ guckte, also Fernsehprogramme aus der Bundesrepublik Deutschland, wurden die Eltern zum jemanden zu jemandem zitieren jemandem befehlen, zu jemandem zu gehen, meist um dort für ein bestimmtes Verhalten getadelt oder bestraft zu werden Schuldirektor oder zu jemandem zitiert jemanden zu jemandem zitieren jemandem befehlen, zu jemandem zu gehen, meist um dort für ein bestimmtes Verhalten getadelt oder bestraft zu werden , der zur herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, gehörte. Als die anfängliche Euphorie etwas nachließ und die Vereinigung durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 vollzogen worden war, meldete sich auch bei Judith Enders das Gefühl, etwas Vertrautes zurückzulassen:
„Das ist nicht nur ’n Mythos, es gab die soziale Sicherheit, die heutzutage nicht mehr so empfunden wird. Auch die Bundesrepublik ist natürlich ein Sozialstaat. Aber trotzdem, die DDR war schon so eine fürsorglich-paternalistische Gesellschaft. Da musste man sich nie Gedanken machen … die eigene Zukunft, ob da eine Existenzangst existieren wird oder Ähnliches. Andererseits war das natürlich auch schwer bezahlt mit weniger Freiheit.“
In der DDR gab es eine soziale Absicherung, die durch die Verfassung von 1968 garantiert wurde. Das war, so Judith Enders, kein Mythos, etwas, das man sich nur so erzählte, obwohl es eigentlich nicht stimmte. So bestand beispielsweise ein Recht auf Arbeit, auf gleichbleibende, billige Mieten sowie niedrige Kosten für Energie, Wasser und Heizung. Auch die Betreuung von Kindern in Krippe Krippe, -n (f.) Kurzform für: Kinderkrippe; ein Ort, an dem Kinder bis drei Jahre betreut werden , Kindergarten oder Schulhort Schulhort, -e (m.) eine Einrichtung, in der sich Grundschulkinder vor Schulbeginn und nach Schulende aufhalten können war kostenlos, ein Platz für jedes Kind garantiert. Trotz allem war es eine paternalistische Form einer Sozialpolitik. Sie bevormundete ihre Bürgerinnen und Bürger. Die Transformationszeit, den Übergang von einem politischen System in ein anderes, empfand laut Judith Enders jeder anders. Lehrreich war die Zeit auch im Hinblick darauf, was die Einstellung der Westdeutschen zu den Ostdeutschen und umgekehrt anging. Auch für Judith Enders und ihre Familie:
„Unsere Familie ist natürlich auch in diesem Transformationsprozess in den [19]90er-Jahren in unruhiges Fahrwasser geraten, wie fast jede Familie in Ostdeutschland. Ich habe mein elftes Schuljahr in Marburg in Westdeutschland verbracht und habe da viele interessante Dinge gelernt darüber, wie die westdeutsche Gesellschaft funktioniert, aber auch, dass es eine andere Gesellschaft ist und wie die westdeutsche Kleinstadt auf den Osten schaut, nämlich mit wohlwollender Distanz.“
Der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch führte bei den meisten ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -bürgern dazu, dass sie in eine unsichere Lage gerieten. Sie gerieten in unruhiges Fahrwasser. Denn die Misswirtschaft in der ehemaligen DDR wurde offenbar. Unrentable Betriebe wurden dichtgemacht dicht|machen umgangssprachlich für: endgültig schließen (z. B. eine Firma) , andere privatisiert. Zwischen 1989 und 1991 wurden mehr als 2,5 Millionen Menschen arbeitslos. Hinzu kam, dass die Westdeutschen, die „Wessis Wessi, -s (m./f.) umgangssprachlich, abwertend: ein Bewohner/eine Bewohnerin Westdeutschlands “, und die Ostdeutschen, die „Ossis Ossi, -s (m./f.) umgangssprachlich, abwertend: ein Bewohner/eine Bewohnerin Ostdeutschlands “, nicht viel voneinander wussten. Manche übten sich in wohlwollender Distanz. Es war schön, wiedervereinigt zu sein, aber am liebsten blieb man unter sich. Andere pflegten die Klischees Klischee, -s (n.) das Vorurteil; so, wie viele Menschen über eine bestimmte Gruppe von Menschen denken über „die da im Osten“ und traten herablassend und überheblich auf. Um mehr Verständnis füreinander zu wecken, fand sich eine Gruppe engagierter Menschen zusammen, darunter auch Judith Enders, die etwas dagegen tun wollte. Denn, so sagt Enders:
„Ah, irgendwie ist es doch noch nicht so einheitlich, dass man voneinander weiß, dass man weiß, wie die anderen gelebt haben, was sie für biographische Besonderheiten wahrgenommen haben in ihrem bisherigen Leben. Und ich dachte, da muss noch ’n bisschen was passieren: Mehr Kommunikation, mehr Offenheit und auch mehr Interesse füreinander.“
Am 1. Juni 2010 wurde deshalb das Netzwerk „3te Generation Ostdeutschland“ in Berlin gegründet. Absicht war, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in der DDR geborenen Menschen zusammenzubringen, von ihren während der Wendezeit gesammelten Erfahrungen zu profitieren und diese auch öffentlich zu machen – ein Ziel, das auch die Initiative „Perspektive³“ hat, an der Judith Enders ebenfalls beteiligt ist. Der Zusatz „hoch drei“ bedeutet, so Enders:
„Das heißt Vergangenheit ernst nehmen, die Gegenwart anschauen und die Zukunft gestalten. Das ist ‚hoch 3‘. Wir haben zum Beispiel organisiert eine sehr schöne Fotoausstellung von Positionen junger FotografInnen aus dem Osten, in der die Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit haben – also auch die Bürger aus anderen Ländern, auch Ost- und Westdeutsche –, sich mal die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Transformation, Wendezeit anzuschauen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln.“
Die Ausstellung „Der Dritte Blick“ mit Bildern von Fotografinnen und Fotografen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in der DDR geboren wurden, fand 2015 anlässlich des 25. Jahrestages der Deutschen Einheit in Kiel statt. Wo stehen Ostdeutsche und Westdeutsche jetzt, 30 Jahre nach Öffnung der Grenzen? Judith Enders Einschätzung:
„Dass wir immer noch von Ossis und Wessis sprechen, finde ich …
… ein bisschen überholt, aber für die Analyse nützlich.
Die deutsche Einheit bedeutet für mich ganz persönlich …
… einen großen Glücksfall, weil ich viele sehr nette Menschen kennenlernen konnte, die ich mit Mauer niemals kennengelernt hätte.“
Sie wird erst dann vollendet sein, wenn…
… noch einige Jahre ins Land gegangen sind und die nächste Generation gelernt hat, die Erlebnisse der vorherigen Generation so zu interpretieren, dass es ein positives Ergebnis gibt.“
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*Unter Verwendung des Interviews von Thomas Spahn mit Judith Enders https://bit.ly/2Rm3Re8
„Die deutsche Einheit braucht noch etwas mehr Zeit“
Meißel, - (m.) — ein Werkzeug, das an einem Ende zugespitzt ist und v. a. für die Bearbeitung von Stein und Metall verwendet wird
DDR (f., nur Singular) — Abkürzung für: Deutsche Demokratische Republik (Staat von 1949-1990)
Stasi (f., nur Singular) — Abkürzung für: die Staatssicherheit; der Geheimdienst der DDR zwischen 1950-1990
sich verplappern — umgangssprachlich für: versehentlich über etwas sprechen, das besser geheim geblieben wäre
jemanden zu jemandem zitieren — jemandem befehlen, zu jemandem zu gehen, meist um dort für ein bestimmtes Verhalten getadelt oder bestraft zu werden
Krippe, -n (f.) — Kurzform für: Kinderkrippe; ein Ort, an dem Kinder bis drei Jahre betreut werden
Schulhort, -e (m.) — eine Einrichtung, in der sich Grundschulkinder vor Schulbeginn und nach Schulende aufhalten können
dicht|machen — umgangssprachlich für: endgültig schließen (z. B. eine Firma)
Wessi, -s (m./f.) — umgangssprachlich, abwertend: ein Bewohner/eine Bewohnerin Westdeutschlands
Ossi, -s (m./f.) — umgangssprachlich, abwertend: ein Bewohner/eine Bewohnerin Ostdeutschlands
Klischee, -s (n.) — das Vorurteil; so, wie viele Menschen über eine bestimmte Gruppe von Menschen denken