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Die Brücke am Irwell

12. April 2014

Unfälle sind immer erschreckend. Aber sie können gute Folgen haben. Diederich Lüken beschreibt für die evangelische Kirche ein Brückenunglück und was wir alle daraus lernen können.

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Brücke von Emil Nolde
Brücke von Emil Nolde (1867-1956)Bild: Nolde Stiftung Seebüll

Kurze Wege sind gut für die Menschen - meistens

Brücken sind dazu da, dass Menschen zueinander kommen. Gräben werden überwunden, lange Umwege werden überflüssig und die Menschen können sich leicht und oft begegnen. Für ein gedeihliches Miteinander sind Brücken unverzichtbar; sie sind so gesehen unerlässlich für den Frieden eines Landes. Doch auch das Militär nutzt die Brücken, wenn die Soldaten von einem Ufer zum andern wollen. Die Zerstörung von Brücken gehört deshalb zu den bevorzugten Aktionen, die ein Land unternehmen kann, wenn es sich vor einem Feind schützen muss, weil es damit dem Militär die Wege abschneidet. Manchmal sind es aber auch die Soldaten selbst, die die Brücken hinter sich abreißen. Es gibt sogar einen Fall, in dem das unfreiwillig geschah.

Der Zusammenbruch der Broughton Suspension Bridge

Die Broughton Suspension Bridge war eine 44 Meter lange Kettenbrücke über den Fluss Irwell zwischen den Orten Broughton und Pendleton, heute City of Salford, Greater Manchester in England. Sie war eine der ersten Hängebrücken in Europa. Heute vor 183 Jahren, also am 12. April 1831, stürzte sie ein. Drei Gruppen von Soldaten wollten in ihre Kaserne zurückkehren und mussten dazu diese Brücke passieren. Zwei Gruppen hatten das schon problemlos geschafft. Bei der dritten Gruppe geschah es. Ungefähr 70 Männer betraten die Brücke; und obwohl sie ungeordnet marschierten, begann die Brücke unter ihren schweren Tritten hin und her zu schwingen. Das gefiel den Soldaten, und sie versuchten, die Schwingungen noch zu verstärken. Einer begann, einen Marsch zu pfeifen, andere pfiffen mit, und es passierte genau das, was immer passiert, wenn Marschmusik erklingt: Die Soldaten passten ihren Tritt dem Lied an und verfielen übermütig in den Gleichschritt. Der 70fach verstärkte Takt übertrug sich auf die Brücke und sie schwang im gleichen Rhythmus mit, sehr zum Vergnügen der jungen Männer. Das aber hielt die Brücke nicht aus. Die Spitze des Zuges hatte schon die andere Seite erreicht, da gab es einen lauten Knall. Einer der Brückenmasten stürzte auf die Brücke, und die Fahrbahn fiel ungefähr fünf Meter tief in den Fluss, mit ihr die Soldaten, die sich noch darauf befanden. Es war noch ein Glück, dass niemand dabei zu Tode kam. Allerdings wurden 20 Soldaten verletzt, sechs von Ihnen schwer. Die technische Ursache für das Unglück war bald geklärt; die tragende Kette der Kettenbrücke war zu schwach befestigt worden.

Doch auch die militärische Seite des Geschehens wurde bedacht: Seit diesem Unfall dürfen in England die Soldaten nicht mehr im Gleichschritt über eine Brücke marschieren. Ich wünsche mir, dass der Gleichschritt generell aus dieser Welt verschwindet, denn er zerstört immer Brücken. Auch dann, wenn die Bauwerke ihm durchaus standhalten, zerbrechen zwischenmenschliche Brücken, wenn der Gleichschritt erklingt. Nicht nur Straßen und Häuser zittern unter den dröhnenden Tritten, auch die Menschen zittern. Vor allem dann, wenn ungute Erinnerungen an die Zeit wachwerden, als der Marsch zum Alltag gehörte und zur Einschüchterung der Bürger diente - Deutschland hat solches bekanntlich übergenug erlebt.

Mehr Brücken, weniger Gleichschritt

Deshalb ist eine schöne prophetische Vision, wenn der biblische Jesaja sagt: "Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt" (Jesaja 9,4). Der Prophet sieht auch, dass Gott einen Friedefürsten senden wird, der dem Gedröhn des Gleichschrittes ein Ende macht. Diese Hoffnung ist im jüdischen Volk lebendig geblieben bis auf diesen Tag, also bei den Menschen, die am meisten unter dem Gleichschritt zu leiden hatten. Der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide sprach in diesem Zusammenhang einmal von der "chronischen Entzündung der Hoffnungsdrüse", die Juden und Christen gleicherweise befallen habe. So ist die Zerstörung der Brücke in Broughton ein Symbol für die Hoffnung, dass dem Militär die Brücken zerbrechen, damit die Brücken zwischen Mensch und Mitmensch heil werden und heil bleiben können. Diese Hoffnung darf unser Denken und Handeln bestimmen.

Zum Autor: Diederich Lüken, Jahrgang 1952, ist Pastor i. R. in der Evangelisch-methodistischen Kirche in Stuttgart-Bad Cannstatt. Er wurde in Veenhusen/Ostfriesland geboren, studierte Theologie in Münster, Reutlingen, Tübingen und Marburg. Seine beruflichen Stationen führten ihn nach Essen, Bebra, Velbert, Stuttgart-Weilimdorf (Rundfunkarbeit der Evangelisch-methodistischen Kirche) und Stuttgart-Bad Cannstatt. Er ist in zweiter Ehe verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Pastor Diederich Lüken Stuttgart
Pastor Diederich LükenBild: EKD