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Die Bibel der Inuit

Rachel Gessat3. Juni 2012

In diesen Tagen wird erstmals die komplette Bibel in der Sprache der Inuit veröffentlicht. Wertvolle Vorarbeit hatte der britische Missionar John Sperry geleistet, der 19 Jahre bei den Inuit lebte.

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Der britische Missionar John Sperry und einige Inuit Foto: Nicola Vollkommer (Bilder nur im Zusammenhang mit Bericht über John Sperry verwenden)
Bild: Nicola Vollkommer

1950 machte sich der junge Pfarrer John Sperry auf den Weg. Fort aus der englischen Heimat in Leicester, hin zu dem kleinen Ort Coppermine im äußersten Norden von Kanada. Hier lebten damals nur wenige Inuit-Familien, im Sommer in Zelten, im Winter in Iglus. Die Inuit sind die Ureinwohner Kanadas.

Fischfang und Jagd ernährten sie, moderne Technik war ihnen ebenso fremd wie die englische Sprache. Und die Menschen lebten in bitterer Armut: Wenn die Rentiere auf ihren jahreszeitlichen Wanderungen einmal andere Routen wählten, verhungerten ganze Dörfer. Die Bewohner hatten keinerlei ärztliche Versorgung, nicht bei der Geburt ihrer Kinder, nicht in Krankheit oder Alter.

Täglicher Kampf ums Überleben

John Sperry, damals 26 Jahre alt, wollte ihnen als Seelsorger beistehen, erzählt seine Nichte Nicola Vollkommer, die in Deutschland lebt: "Er hat gesagt, Missionar zu sein, heißt nicht, eine andere Kultur aufzudrängen, sondern mit den Menschen zusammen zu leben, ihre Not zu teilen und ihr Leid." Und das tat der junge Geistliche.

John Sperry bei der Robbenjagd Foto: Nicola Vollkommer (Bilder nur im Zusammenhang mit Bericht über John Sperry verwenden)
John Sperry bei der RobbenjagdBild: Nicola Vollkommer

19 Jahre verbrachte er bei den Inuit nördlich des Polarkreises, lernte ihre Sprache, lernte, Rentiere und Robben zu jagen und ihr Fell in Kleidung und ihr Fleisch in Mahlzeiten zu verwandeln. "Acht Stunden am Tag war er mit der Sicherung seines eigenen Überlebens befasst", erzählt seine Nichte. "Erst danach fing sein eigentlicher Dienst an, der Dienst an den Menschen." Dazu gehörte neben der praktischen Unterstützung der Menschen für den Pfarrer natürlich auch, den Inuit das Christentum näher zu bringen.

"Der Bootsbesitzer ist ein guter Windschutz"

Doch wie erklärt man Menschen, die nördlich des Polarkreises leben, die Bilder aus der hebräischen Bibel? Die Gleichnisse, die von Fischen und Wasser erzählen, waren die einzigen, bei denen sich die Lebenswelt der Inuit in Kanada mit der der Juden im römisch besetzten Heiligen Land traf. Doch für all die anderen Gleichnisse aus dem Bereich des Ackerbaus und der Viehzucht, von denen es in der Bibel nur so wimmelt, gab es in der Sprache der Inuit keine Wörter.

John Sperry zieht Eisblöcke aus dem Fluss als Trinkwasservorrat für den Winter. Foto: Nicola Vollkommer (Bilder nur im Zusammenhang mit Bericht über John Sperry verwenden)
Eisblöcke wurden für die Trinkwassergewinnung aus dem Fluss geschnittenBild: Nicola Vollkommer

Schlimmer noch, es gab auch kein Wort für Gott. Ein Vorgänger John Sperrys übersetzte Gott kurzerhand mit "Bootsbesitzer", denn in den Inuit-Kulturen war der Mann, der ein Boot besaß, immer der Chef. Und als Sperry das bekannte Kirchenlied von Martin Luther "Eine feste Burg ist unser Gott" übersetzte, machte er aus der Burg kurzerhand einen "Windschutz".

Bischof der Arktis

1974 wurde er innerhalb der anglikanischen Kirche zum "Bischof der Arktis" ernannt, ein Amt, das er bis 1990 innehatte. Der Bischofssitz war und ist in Yellowknife, rund 600 Kilometer südlich von Coppermine gelegen. Mit seinem Umzug dorthin kehrte John Sperry mit seiner Frau – er hatte 1952 die Krankenschwester Betty Maclaren geheiratet - und seinen zwei Kindern in die "zivilisierte Welt" zurück. Und auch die traditionelle Lebensweise der Inuit ging Ende der 60er Jahre zu Ende. Die meisten Familien wurden umgesiedelt oder zogen freiwillig weiter nach Süden in wärmere Regionen und ließen sich dort dauerhaft nieder.

Im Jahr seiner Ernennung zum Bischof erhielt John Sperry hohen Besuch: Die britische Königin Elisabeth II. besuchte Kanada. Sperry dolmetschte zwischen der Queen und den Inuit. Kurz vor seinem Tod im Februar 2012 verlieh ihm die Queen einen Verdienstorden für seine Bemühungen zur Erhaltung der Inuit-Kultur. Das habe ihn sehr gefreut, erzählt seine Nichte, die ihrem faszinierenden Onkel in einem Buch mit dem Titel "Am Rande der gefrorenen Welt" ein literarisches Denkmal setzte.

John Sperry als Dolmetscher für Queen Elisabeth II Foto: Nicola Vollkommer (Bilder nur im Zusammenhang mit Bericht über John Sperry verwenden)
Für Queen Elisabeth II. dolmetschte John Sperry (re.)Bild: Nicola Vollkommer

Schlittenhunde statt Schafe

Und vielleicht noch mehr habe er sich gefreut, als er 2004 noch einmal nach Coppermine reiste, das inzwischen Kugluktuk heißt, übersetzt etwa "der Platz am fließenden Wassers". Denn dort fand der alte Pfarrer bei vielen Besuchen "seine Bibel" auf den Nachttischen seiner ehemaligen Gemeinde.

Rund 200 Kirchenlieder, die Apostelgeschichte und die vier Evangelien hat John Sperry in "Inuinnaktun", der Inuitsprache der westlichen Arktis, übersetzt. Am Sonntag (03.06.2012) erschien nun die komplette Übersetzung der Bibel auch in "Inuktitut", der Sprache der östlichen Regionen. Daran haben nur Inuit mitgewirkt, um die passendsten Ausdrücke zu finden. Der gute Hirte der Bibel wurde dabei zum "Babysitter für Schlittenhunde".