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Die Archive einer Stadt

Dunja Welke12. November 2005

Berlin besitzt die meisten Friedhöfe aller europäischen Hauptstädte: jüdische, moslemische, freireligiöse, orthodoxe. Sie haben eine lange Geschichte und eine ungewisse Zukunft.

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Jüdischer Friedhof Berlin-WeißenseeBild: presse

Berliner Friedhöfe sind Orte, auf denen auch Nicht-Trauernde gern spazieren gehen. Man kann unter alten Bäumen wandeln oder auf Wiesen zwischen Grabreihen und Denkmälern. Immer wieder bleiben Besucher erstaunt vor künstlerisch gestalteten Grabsteinen stehen oder sinnen neugierig und mit Phantasie einem Schicksal nach.

Kultur und Unkultur

Berlin bietet alles an Grabkultur und -unkultur: Gepflegte Ehrengräber, große anonyme Wiesenflächen, auf denen ein paar Blumen stecken. Krieggräber oder Grabstätten von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mahnen an Geschichte.

224 Friedhöfe hat die deutsche Hauptstadt, davon 88 landeseigene und 136 konfessionelle. Auf 187 davon wird heute noch bestattet. 75 von ihnen sind als Gartendenkmal in die Berliner Denkmalliste aufgenommen worden. Sie bedecken ein Prozent der Stadtfläche. Die meisten der Begräbnisstätten befanden sich, als sie am Ende des 19. Jahrhunderts angelegt wurden, außerhalb der Stadt. Durch die Entwicklung zur Weltstadt wurden sie zu innerstädtischen Friedhöfen. Der dezentrale Charakter macht die Berliner Friedhofslandschaft so reich und vielgestaltig.

Jüdischer Friedhof in Weißensee
Bild: dpa

Aber dieses Erbe ist zunehmend zur Last geworden. Der Unterhalt ist kostspielig. Geplant sind deshalb für die nächsten dreißig Jahre Stilllegungen, Teilstilllegungen und Umnutzungen.

42 Hektar jüdische Geschichte

Der Jüdische Friedhof im Ostberliner Bezirk Weißensee ist einer der ältesten - und mit zweiundvierzig Hektar einer der größten Friedhöfe Europas. 1880 wurde hier erstmals bestattet. Es ist einer der romantischsten Orte Berlins, ein riesiger schattiger Park mit versinkenden und versunkenen Gräbern, mit einzigartiger Grabarchitektur, aber auch Massengräbern. Sie zeugen von der Shoah, aber auch von jüdischen Teilnehmen am ersten Weltkrieg. Man begegnet deutscher Kulturgeschichte, man ahnt etwas von der Assimilationsgeschichte deutscher Juden.

Der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Albert Meyer, der als Junge vor dem Krieg hierher zum Grab seines Großvaters ging, schätzt diesen Ort nicht nur aus persönlichen Gründen: "Dieser Friedhof ist ja extrem unjüdisch", sagt Meyer. "Hier haben die Juden versucht, es ihrer Umwelt nachzumachen und eine Grabkultur zu entwickeln, die eigentlich nicht dem jüdischen Ritus entspricht." Ein Hinweis, wie stark das Berliner Judentum in ihrer Umweltgesellschaft aufgegangen war. "Sie wollten eben genauso ihre Gräber schmücken mit Prunkpalästen, mit Erbgrabstätten. Das zeigt das Besondere an diesem Friedhof, deswegen ist er von historischer Bedeutung."

"Er ist das Archiv für die emigrierten Juden", sagt Meyer. "Es ist sozusagen der Punkt, wo man noch etwas über die Vorfahren in Erfahrung bringen kann. Und man sollte nicht vergessen, dass hier etwas vorhanden ist, was es nicht mehr gibt: Es ist ein Kulturgut des nicht mehr vorhandenen deutschen Judentums."

Friedhof als Weltkulturerbe

Um das europaweit einzigartige Gräberfeld zu retten, hat Alfred Meyer im Namen der nun 12.000 Mitglieder zählenden Berliner Gemeinde 2005 den Status des UNESCO-Weltkulturerbes beantragt. Die Bewerbung, so ein Kalkül des Gemeindevorstands, könnte die Bundesregierung drängen, den Friedhof als nationales Kulturgut anzuerkennen und finanziell mehr Hilfe zu leisten. Zwanzig Millionen Euro für Sanierungsmaßnahmen und noch einmal zwanzig Millionen für Grabrestaurierungen würde allein der behutsame Erhalt kosten.

Jüdischer Friedhof Weißensee
Bild: dpa - Report

Mit ihrem UNESCO-Vorstoß haben die Berliner Juden viel mediale Aufmerksamkeit, aber auch Kritik geerntet. Manche Kritiker meinen, die Gemeinde sei vorgeprescht und hätte die Chance verpatzt, dass die gesamte Berliner Friedhofslandschaft Weltkulturerbe wird. Meyer hält dagegen. Es gäbe schließlich einen Unterschied: "Wir waren 170.000 Juden vor dem Krieg. Wenn wir heute 170.000 Juden wären, dann bräuchten wir keine Hilfe. Dann würden wir die Gräber selbst erhalten. Wir sind keine 170.000 mehr. Das ist nicht unsere Schuld. Und deshalb gibt es eine Pflicht."

Der zweite Teil porträtiert einen buddhistischen, einen freikirchlichen und einen russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin. Klicken Sie untenstehenden Link!