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Die 2010er: das Turbo-Jahrzehnt

Silke Wünsch
27. Dezember 2019

Handynacken, #MeToo und Netflix: Ende 2009 hätten wir nicht gedacht, dass sich unser Miteinander in nur zehn Jahren so grundlegend verändern würde. Technik, Klima und Politik gaben den 2010ern einen starken Schub.

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Schild warnt vor «Smombies»
Bild: picture-alliance /dpa/C. Schmidt

Smartphone: Früher der Daumen, jetzt der Nacken

Als 2007 das Apple iPhone erschien, war noch nicht klar, dass es die Mediennutzung in wenigen Jahren komplett verändern würde. Das Touchscreen-Telefon mit den vielen zusätzlichen Funktionen verbreitete sich rasend schnell, andere Hersteller zogen erfolgreich nach. Zum "Handy-Daumen" gesellt sich inzwischen der "Handy-Nacken". Menschen mit gebeugten Häuptern prägen das Straßenbild. Gehend, stehend, sitzend starren sie nach unten auf das Display, spielen, schreiben, oder telefonieren. Die "Head-down-Generation" hat Bluetooth-gesteuerte Kopfhörer auf den Ohren - am besten mit "noise cancelling" - und schottet sich von der Außenwelt ab. In immer mehr Ländern gibt es inzwischen Bodenampeln, damit die Leute nicht permanent bei Rot über die Straße laufen oder vor Laternenpfähle rennen. Manche Städte haben sogar spezielle Gehweg-Abschnitte für Handynutzer markiert.

Instagram und Influencer

Mode-Bloggerin Caro Daur und YouTuberin Bianca "Bibi"
Influencerinnen: Modebloggerin Cato Daur und Youtuberin Bianca "Bibi" HeinickeBild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen/J. Kalaene

Selbstdarstellung oder Selbstbetrug?Während Industrie und Medien immer wieder versuchen, Frauen ein neues Selbstbild zu verschaffen - während etwa auf den Laufstegen halb verhungerte Models eher üppigen Frauen weichen oder eine Seifenfirma Frauen mit kleinen Unperfektheiten zu Werbeikonen macht - können andere offenbar nicht vom Ideal der aalglatten superschlanken Schönheit lassen. Bei Youtube und Instagram werden Influencer geboren - Nutzer, die mit ihren Posts so viele Menschen erreichen, dass sie als Werbeträger fungieren.

Neben Influencern, die tatsächlich Inhalte transportieren, ist die - vor allem weibliche - Mehrzahl eifrig dabei, ein von der Mode- und Kosmetikindustrie überzeichnetes Schönheitsbild in die Kanäle der jungen Nutzerinnen und Nutzer zu spülen. Filter-Apps machen es möglich - sie lassen Pickel verschwinden, machen Hüften schmaler und den Schmollmund voller. Mit dem Selfiestick von oben nach unten fotografiert (andersrum macht ein Doppelkinn!) im stylishen Ambiente - fertig ist die perfekte Selbstdarstellung, die mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat und einen weiteren Trend der letzten Jahre konterkariert:

#Aufschrei und #MeToo

#MeToo Protest von Frauen, Frau trägt Plakat mit der Aufschrift lasst eure Hände und euren Penis bei euch, bis wir was anderes sagen.
Neues weibliches Selbstbewusstsein: WIR sagen, wann ihr uns anfassen dürftBild: Imago/Pacific Press/L. Radin

Im Januar 2013 fordert die Feministin Anne Wieczorek die Userinnen und User auf Twitter auf, unter dem Hashtag #Aufschreiihre Erfahrungen mit Alltagssexismus, Herrenwitzen und anderen Übergriffen zu beschreiben. In zwei Wochen werden 60.000 Tweets veröffentlicht und lösen eine riesige Debatte in Deutschland aus - und tatsächlich schon eine erste Sensibilisierung.

Viereinhalb Jahre später kommt das Thema wieder auf - diesmal weltweit. Im Zuge des Skandals um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, der etliche Frauen in Hollywood missbraucht haben soll, breitet sich der Hashtag #MeToo aus. Wieder berichten Frauen über ihre Erfahrungen. Und diesmal geht es Prominenten an den Kragen. Schauspieler wie Kevin Spacey werden geächtet. Der Opernstar Placido Domingo zieht sich zurück. Der deutsche Regisseur Dieter Wedel ist in Ungnade gefallen. Die Debatte verebbt nicht: Das Thema ist in unserem Alltag angekommen - der unbedachte Klaps auf den Po ist weitestgehend Vergangenheit.

Netflix und Serien

«Game of Thrones» John Schnee und Daenerys
"Game of Thrones" war eine der erfolgreichsten Serien der 2010erBild: picture-alliance/dpa/Sky

Vor zehn Jahren war das Streamen von Filmen und Serien nur den Nutzern teurer US-Streaming-Plattformen vorbehalten. Und dann kam Netflix. 2012 eroberte es weite Teile Europas und 2014 schließlich auch Deutschland. Inzwischen verbringen vor allem junge TV-Zuschauer mehr Zeit mit Netflix-Serien als mit dem linearen Fernsehen. Weitere Streaming-Plattformen wie der Platzhirsch "Sky" oder "Amazon Prime", die eng mit den großen US-Playern wie HBO zusammenarbeiten, bringen Erfolgsserien wie "Game of Thrones" oder "Homeland" nach Deutschland - nicht nur auf die TV-Bildschirme, sondern auch auf Laptops, Tablets und Smartphones. Jederzeit, werbefrei und trotzdem bezahlbar. Die TV-Landschaft wird nie mehr so sein, wie sie war.

Spotify

Großes Spotify Plakat über dem Eingang der Wallstreet-Börse in New York
Im April 2018 ist Spotify sogar an die Börse gegangenBild: picture-alliance/dpa/AA/A. Elshamy

2012 kommt "Spotify" nach Deutschland. Und verändert die Hörgewohnheiten von Musiknutzern zum dritten Mal in zwei Jahrzehnten. CDs sind endgültig out, es ist Schluss mit mp3, umständlichen Musik-Verwaltungsprogrammen wie iTunes oder gar Speicherproblemen. Jetzt ist es möglich, Musik direkt zu streamen, Playlisten zu erstellen oder sich sogar - noch besser - von Spotify mit passenden Musikvorschlägen versorgen zu lassen. Neben mehr als 50 Millionen Musiktiteln bietet der Streamingdienst auch Hörbücher und Podcasts an - außerdem eine Plattform für Nachwuchsbands, auf der diese sich präsentieren können. Selbst namhafte Künstler, die um ihre Umsätze bangen, können den Siegeszug der Plattform nicht aufhalten. Auch die Musikindustrie - die CD-Verkäufe sind noch weiter eingebrochen als bei der Einführung von mp3 - muss diese Kröte schlucken, bekommt aber auch ein Stück vom Spotify-Kuchen ab.

Flüchtlinge, Fremdenhass und eine neue Partei

Demonstranten mit einem Banner mit der Aufschrift "Solidarität mit Flüchtlingen, Refugees welcome"
Willkommenskultur in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/F. Hormann

"Wir schaffen das", ruft die deutsche Kanzlerin Angela Merkel im Herbst 2015 in die Mikrofone und öffnet ihre Arme für Hunderttausende, die Hilfe suchen. Menschen, die vor Armut, Hunger und Krieg geflohen sind und sich in Deutschland ein besseres Leben erhoffen. Die Gesellschaft bekommt es zum ersten Mal deutlich zu spüren. Die anfängliche Solidarität ("Refugees welcome"), aber auch die Unsicherheit über viele fremde Gesichter weicht in der Silvesternacht 2015 einer Welle von Unmut, Wut - bis hin zu Hass. Die Angriffe junger Männer aus Nordafrika auf Mädchen und Frauen machen das Dilemma des Zusammenpralls verschiedener Kulturen deutlich - und sind Wasser auf die Mühlen einer Partei, die es vor zehn Jahren noch nicht gab: Die AfD (Alternative für Deutschland) wird 2013 gegründet und findet schnell ihre Klientel. Die Partei ist rechtspopulistisch, in Teilen auch rechtsextrem. Inzwischen sitzen ihre Vertreterinnen und Vertreter auch im deutschen Bundestag.

Rauchverbot

Cartoon/Collage Leute um einen Tisch mit Biergläsern und einem Aschenbecher mit Kippen, daneben ein Mann der ein Nichtraucherschild hochhält Screenshot DE_facto
Bild: DW

Am 1. August 2010 tritt in Bayern ein umfassendes und ausnahmsloses Rauchverbot in Kraft. Weitere Bundesländer wie das Saarland (2011) und Nordrhein-Westfalen (2013) folgen. Die Aufregung ist groß. Niemand kann sich vorstellen, dass ein Kneipenbesuch für Raucher noch Spaß machen würde. Plötzlich offenbart sich in den Kneipen und Discotheken - vor allem bei Brauchtumsveranstaltungen wie dem Oktoberfest oder Karneval, ein bisher nicht bemerktes Phänomen: Der Geruch. Schweiß, Mundgeruch, Alkoholfahnen, Bierlachen, Körperwinde. Der Rauch hatte all das bisher übertüncht. Inzwischen gibt es in ganz Deutschland Rauchverbote, die einzelnen Bundesländer jedoch haben unterschiedliche Ausnahmeregelungen. Was sich selbst passionierte Raucher nicht vorstellen konnten, ist tatsächlich eingetreten: Wir haben uns an rauchfreie Kneipen, Clubs und Bierzelte gewöhnt. Und Raucher sind sensibilisiert: Selbst an der frischen Luft müssen sie jederzeit damit rechnen, böse Blicke zu ernten.

Veganismus

Zwei Kühe auf der Weide
Kühe sind MethanproduzentenBild: picture-alliance/dpa/M. Müller

Der Verzicht auf tierische Produkte in Nahrung, Kleidung und Gebrauchsgegenständen ist lange Zeit belächelt worden. Inzwischen ist die vegane Lebensweise im täglichen Miteinander angekommen. Restaurants und Kantinen bieten vegane Speisen an, vegane Lebensmittel haben sich aus den Bioläden bis in die Regale der Supermärkte durchgesetzt. Vegane Kleidung liegt voll im Trend. Alles zum Schutz der Tiere, gegen deren Ausbeutung und Tierquälerei. In den letzten Jahren hat sich ein weiteres Argument für die vegane Lebensweise dazugesellt: Der Klimaschutz. Inzwischen ist erwiesen, dass auch die Tierhaltung klimaschädlich ist. Denn mit Methan und Lachgas bläst die Landwirtschaft viele klimaschädliche Stoffe in die Luft. Allein in Deutschland trägt die die Landwirtschaft etwa sieben Prozent zur Gesamtemission dieser Stoffe bei.

Klimawandel

Greta Thunberg auf der UN-Klimakonferenz 2019 in Madrid vor Mikrofonen
Greta Thunberg auf der UN-Klimakonferenz 2019 in MadridBild: AFP/C. Quicler

Lange schon wurde das Problem auf Weltklimakonferenzen angesprochen und lange schon wurden Maßnahmen getroffen, um die Erderwärmung zumindest aufzuhalten. Doch niemandem ist die Sensibilisierung für das Thema so gut gelungen wie der jungen Schülerin Greta Thunberg. Als 16-Jährige streikt sie und geht freitags nicht mehr in die Schule, kurze Zeit später spricht sie vor den Großen der Welt beim Klimagipfel. Schüler auf der ganzen Welt tun es ihr nach, sie gehen freitags auf die Straße statt zum Unterricht, lassen Spott, Häme, Besserwisserei von unbelehrbaren Erwachsenen an sich abtropfen - und haben es geschafft: Die Welt hört auf sie. Menschen achten auf Plastikmüll, fahren mehr Fahrrad, Politiker schnüren Klimapakete - sogar die EU-Kommission hat jüngst einen Klima-Deal vorgestellt. Klingt vielleicht alles bemüht und wird die Katastrophe wohl nicht (allein) aufhalten. Doch die Partei "Die Grünen" wird in Deutschland von so vielen Menschen gewählt wie noch nie zuvor.

Achtsamkeit, Hygge und Selbstoptimierung

Symbolbild Zweisamkeit Zwei menschen in Strandklörben im Sonnenuntergang
Bild: picture-alliance/dpa/H.-C. Dittrich

Angesichts der drohenden Klimakatastrophe, des Elends hunderttausender Flüchtlinge, der Politik des amtierenden US-Präsidenten und vieler weiterer scheinbar unlösbarer Konflikte auf der Welt scheint man seine Mitte wieder mehr bei sich selbst zu suchen. In keinem Jahrzehnt ist so viel Literatur erschienen, die sich mit Lebensqualität beschäftigt. In nachhaltig hergestellten Zeitschriften gibt es Anleitungen zur Achtsamkeit, Yogakurse, Artikel über das Aussteigen. Das dänische Wort "hygge" bedeutet: Lebe glücklich, genieße den Moment, tu dir und anderen Gutes.

Das klappt nur, wenn man mit sich selbst im Reinen ist. Den Weg dorthin versprechen uns Persönlichkeitscoachs und Psychologen in unzähligen Podcasts und Youtube-Videos mit millionenfachen Abrufzahlen und auf ausverkauften Rednerveranstaltungen. Mit dem Thema wird derzeit eine Menge Geld verdient. Das mag kritikwürdig sein - doch wenn es den Leuten danach besser geht ...

In diesem Sinne wünscht die Redaktion Ihnen einen gelungenen Start ins neue Jahrzehnt!