Deutschland und seine Demokratie
Demokratie bedeutet mehr, als nur sein Wahlrecht wahrzunehmen. Auch gesellschaftliches Engagement gehört dazu oder das Recht auf freie Meinungsäußerung – oft bis an die Grenzen der Legalität und des Erträglichen.
Ein Fußballplatz am Rande der Stadt Köln. Es regnet, der Rasen ist rutschig. Acht Jungs spielen unbeirrt und konzentriert weiter, einige in richtigen Fußballschuhen, andere in Turnschuhen, ein paar barfuß. Auf Deutsch werfen sich die Flüchtlingsjungen Begriffe wie „Tor“, „Pass“ zu. Um die kleine Mannschaft kümmert sich Uli. Vier bis fünf Stunden wöchentlich engagiert er sich im Rahmen der Willkommensinitiative im Rheinbogen „Wisü“ ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Seine Motivation begründet er so:
„Im Vordergrund steht für mich die menschliche Geste. Aber auch ein Signal, etwas Positives beitragen zu können für die Integration von Menschen, die größtenteils alles verloren haben – auch [ihr] Lebensgefühl verloren haben – und hier Schutz finden sollen.“
Deutschlandweit gibt es fast 31 Millionen Menschen, die sich wie Uli ehrenamtlich engagieren. Das Bundesfamilienministerium bezeichnet das freiwillige Engagement als „eine zentrale Form der sozialen Teilhabe“ und „wertvoll für die Demokratie“. Es reicht von der Elternpflegschaft Elternpflegschaft, -en (f.) das Mitwirkungsgremium von Eltern an Schulen oder anderen pädagogischen Einrichtungen in der Schule oder im Kindergarten über Sportvereine bis hin zur Umwelt- und Klimabewegung. Ein politischer Einfluss ist hier auf der lokalen Ebene allerdings eher gering, meint die Politikwissenschaftlerin Annette Zimmer von der Universität Münster.
„Also, wir sind ja in Deutschland föderal und dann in Dachorganisationen organisiert. Und jetzt mag vielleicht der lokale Sportverein vor Ort ’n begrenzten politischen Einfluss haben, aber der Deutsche Olympische Sportbund ist natürlich schon ganz aktiv und auch schon politisch eigentlich sehr kräftig.“
Ob politisch orientiert oder nicht: Das zivilgesellschaftliche Engagement findet im föderal organisierten Deutschland, das also aus verschiedenen Regionen mit begrenzter Selbstständigkeit besteht, in der Regel erst einmal lokal statt. Aus lokalen Initiativen können größere Bewegungen mit politischen Forderungen entstehen, beispielsweise wenn sich mehrere lokale Initiativen oder Vereine in Netzwerken beziehungsweise Verbänden zusammenschließen. Deren Interessen werden wiederum von einem Dachverband wie beispielsweise dem Deutschen Olympischen Sportbund vertreten.
Westdeutschland kann seit den ersten Wahlen 1949 bereits auf mehr als ein halbes Jahrhundert Demokratie zurückblicken, Gesamtdeutschland seit der Wiedervereinigung 1990 immerhin auf etwa 30 Jahre. Nicht nur das zivilgesellschaftliche Engagement ist ein Ausdruck gelebter Demokratie. Auch das politische System gehört dazu: So ist eine rechte, populistische Partei wie die Alternative für Deutschland (AfD) wieder in Parlamenten vertreten und stellt (jemanden/etwas) hart auf die Probe stellen umgangssprachlich für: genau prüfen, ob jemand/etwas zu gebrauchen ist das demokratische System hart auf die Probe (jemanden/etwas) hart auf die Probe stellen umgangssprachlich für: genau prüfen, ob jemand/etwas zu gebrauchen ist . Denn rechte Gruppen wie Pegida zeigen offen Präsenz offen Präsenz zeigen hier redensartlich für: sichtbar sein , demonstrieren in Städten wie Dresden gegen Flüchtlinge und skandieren skandieren hier: immer wieder die gleichen Wörter oder Sätze in einem besonderen Rhythmus und mit einer besonderen Betonung laut rufen Parolen Parole, -n (f.) ein kurzer Satz, der eine bestimmte Meinung ausdrückt , von denen man glaubte, sie in Deutschland nach der NS-Zeit nicht mehr hören zu müssen. Ihnen stehen jedoch Bürger entgegen, die sich das nicht gefallen lassen wollen:
„Ich möchte zeigen, dass Dresden so vielfältig und so bunt ist, wie wir Bürger uns das wünschen, und dass die Pegida-Menschen einfach nur ’n kleiner Teil sind. / Ich kriege Gänsehaut, wenn ich das jeden Montag hier an meiner Arbeitsstätte erleben muss, und ich weiß, was Dresden erlebt hat, was meine Großeltern hier erlebt haben, und ich möchte, dass unsere Stadt so was nicht mehr hat.“
Sie sind nicht alleine. Berlins Innensenator Andreas Geisel wollte im November 2018 einen rechten Demonstrationszug durch die Stadt mit der Begründung verbieten: „Demokratie muss und kann eine Menge aushalten, muss sich aber nicht alles gefallen lassen.“ Die Demonstration fand dann doch statt, weil durch Gerichtsbeschluss das Verbot aufgehoben wurde.
Richtig politisch aktiv ist allerdings nur eine Minderheit der Bevölkerung. Das spüren vor allem die etablierten Parteien und Gewerkschaften, die mit Mitgliederverlusten zu kämpfen haben. Doch während dort das persönliche Engagement zurückgeht, wächst es seit den 1970er-Jahren für Organisationen wie beispielsweise Greenpeace oder Amnesty International. Sie stehen für bestimmte Themen wie Umweltschutz beziehungsweise Menschenrechte und Meinungsfreiheit, setzen sich für das Gemeinwohl ein. Die Lobbymacht der Zivilgesellschaft, also der Grad des Einflusses, den sie auf die Politik ausüben kann, ist gering. Das wahre Lobbying, sich selbst beziehungsweise dem Unternehmen Vorteile zu verschaffen, findet sich in der Wirtschaft. Das, so sagt Politikwissenschaftlerin Annette Zimmer, muss einfach konstatiert konstatieren feststellen werden:
„Dass die Wirtschaft so mächtig ist, ja, das stimmt, und dass sie auch übermächtig ist im Vergleich zur Lobbymacht der Zivilgesellschaft, das stimmt auch – und das stimmt insbesondere auf der europäischen Ebene, trifft aber auch für Berlin zu. Solche direkten Wege in die Politik hinein hat die Zivilgesellschaft nicht.“
Wirtschaftsbranchen wie etwa die Auto- oder Chemieindustrie haben auf politische Entscheidungsprozesse in Deutschland einen übermächtigen, sehr, sehr großen, Einfluss. Sie haben ihre Lobbyisten nicht nur in Berlin, sondern auch auf Ebene der Europäischen Union. Als zivilgesellschaftlichen Ungehorsam kann man dann das bezeichnen, was diesen übermächtigen Wirtschaftsbranchen entgegenschlägt. Ein Beispiel dafür: das Bündnis „Ende Gelände“, das seit 2015 gegen den Braunkohletagebau Tagebau, -e (m.) eine Anlage über der Erde, in der mit Maschinen etwas aus der Erde geholt wird, um es weiterzuverarbeiten des Energiekonzerns RWE in Nordrhein-Westfalen protestiert, nicht immer mit legalen Mitteln. Das Bündnis ist, wie Aktivistin Aktivist, -en/Aktivistin, -nen eine Person, die sich für die Durchsetzung von etwas durch persönliches Handeln einsetzt (v. a. im politischen Bereich) Janna sagt, gut vernetzt gut vernetzt sein viele nützliche Kontakte haben , so dass zu den Protestaktionen meist hunderte bis tausende Aktivistinnen und Aktivisten erscheinen:
„Wir sind eben als Klimagerechtigkeitsbewegung zusammengewachsen. Wir haben Aktivisten und Aktivistinnen aus den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Schweden, aus Tschechien, Spanien, Italien, Österreich dabeigehabt.“
Eine derartige Unterstützung würden sich die politischen Parteien wünschen, um der anhaltenden Politikverdrossenheit Politikverdrossenheit (f., nur Singular) umgangssprachlich für: Interessenlosigkeit, Ablehnung, Misstrauen gegenüber dem politischen System entgegenzuwirken. Rouven Brües, Geschäftsführer der Initiative „Liquid Democracy“, meint, dass dann aber erst etwas Wesentliches geschehen muss.
„Gerade in Zeiten der veränderten Mitgliederzahlen ist es sehr wichtig, nicht nur die Meinung der Mitglieder in der Partei zu befragen, sondern auch die Partei zu öffnen und vor allem auch die Meinung und die Diskussion aus der Öffentlichkeit mit aufzugreifen. Und da eignen sich vor allem digitale Softwarelösungen sehr gut, um auch die Öffentlichkeit mit einzubeziehen.“
Demokratie lebt auch davon, dass Bürgerinnen und Bürger, die Zivilgesellschaft, in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Der Verein „Liquid Democracy“ möchte dabei helfen, indem er geeignete Software etwa für Stadtverwaltungen entwickelt, um Bürgern eine Mitsprachemöglichkeit in verschiedenen Bereichen zu geben. Dabei geht es nicht um digitale Volksentscheide, sagt Rouven Brües:
„Wir haben ja oft das Gefühl, dass es ’n Missverständnis gibt, dass oft die Abstimmung an sich als das höchste Maß der Teilhabe oder Partizipation gesehen wird. Aus unserer Sicht ist es allerdings die Vorbereitung einer Entscheidung, die viel wichtiger sein kann. Zum Beispiel möchten wir digital Bürger/-innen ermöglichen, da auch mitzubestimmen, über welche Themen überhaupt diskutiert und entschieden werden soll.“
Wie wichtig das ist, zeigte die im Herbst 2018 von der Universität Leipzig veröffentlichte „Autoritarismus-Studie“: 47 Prozent der rund 2500 Befragten in Ost- und Westdeutschland zeigten sich unzufrieden mit der tatsächlichen Praxis der Demokratie in ihrem Land. Der Grund: Das Gefühl, selbst Einfluss auf die Politik nehmen zu können, ist gering ausgeprägt. Im Gegensatz dazu stehen zivilgesellschaftliche Initiativen, bei denen jeder freiwillig mitmachen und erst einmal auf lokaler Ebene etwas bewegen kann. So wie Uli, der in Köln Flüchtlingskindern das Fußballspielen ermöglicht und ihnen damit hilft, in Deutschland Fuß Fuß fassen hier: sich an etwas gewöhnen; sich gut und sicher fühlen zu fassen Fuß fassen hier: sich an etwas gewöhnen; sich gut und sicher fühlen .
Deutschland und seine Demokratie
Elternpflegschaft, -en (f.) — das Mitwirkungsgremium von Eltern an Schulen oder anderen pädagogischen Einrichtungen
offen Präsenz zeigen — hier redensartlich für: sichtbar sein
konstatieren — feststellen
Aktivist, -en/Aktivistin, -nen — eine Person, die sich für die Durchsetzung von etwas durch persönliches Handeln einsetzt (v. a. im politischen Bereich)
Politikverdrossenheit (f., nur Singular) — umgangssprachlich für: Interessenlosigkeit, Ablehnung, Misstrauen gegenüber dem politischen System
(jemanden/etwas) hart auf die Probe stellen — umgangssprachlich für: genau prüfen, ob jemand/etwas zu gebrauchen ist
skandieren — hier: immer wieder die gleichen Wörter oder Sätze in einem besonderen Rhythmus und mit einer besonderen Betonung laut rufen
Parole, -n (f.) — ein kurzer Satz, der eine bestimmte Meinung ausdrückt
Tagebau, -e (m.) — eine Anlage über der Erde, in der mit Maschinen etwas aus der Erde geholt wird, um es weiterzuverarbeiten
gut vernetzt sein — viele nützliche Kontakte haben
Fuß fassen — hier: sich an etwas gewöhnen; sich gut und sicher fühlen