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Deutscher Mittelstand vor der EU-Osterweiterung

Johannes Beck, DW-radio9. Oktober 2002

Bereits heute lassen große Berliner Hotels ihre Bettlaken und Handtücher in Polen waschen. Kilometer weiter Richtung Osten bieten polnische Wäschereien den Service deutlich billiger an als ihre Konkurrenten in Hamburg.

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Bereits heute lassen große Berliner Hotels ihre Bettlaken und Handtücher in Polen waschen. Kilometer weiter Richtung Osten bieten polnische Wäschereien den Service deutlich billiger an als ihre Konkurrenten in Hamburg.

Andererseits haben sich zahlreiche deutsche Firmen in Mittel- und Osteuropa niedergelassen: Sie produzieren Berufskleidung in Litauen, Autoteile in Tschechien oder sorgen in Ungarn für die Installation aufwändiger Umwelttechnik. Mit der Erweiterung der EU nach Osten wird der Fluss von Arbeit und Kapital deutlich breiter werden – nicht nur zur Freude des deutschen Mittelstandes.

Erhöhte Rechtssicherheit, ein leichterer Austausch von Arbeitskräften über die Ländergrenzen hinweg und vor allem eine drastisch vereinfachte Zollabwicklung - nach Ansicht vieler mittelständischer Unternehmer wird es mit der EU-Osterweiterung deutlich einfacher werden, zwischen Budapest, Warschau und Riga zu investieren.

Die EU-Osterweiterung verspricht aber auch neue Aufträge, ist Werner-Wolfgang Spitze, Obermeister der Bau-Innung Hamburg, überzeugt:

1. O-Ton Spitze (deutsch):
"Allein der Druck hoher Energiekosten wird zu erheblichen Investitionen im Bereich energiesparender Neubauten und
energiesparender Bestandserneuerung führen. Positive Impulse in beachtlichem Volumen erwarten wir von den erforderlichen Anpassungen an EU-Standards in den Bereichen Umwelt, Gesundheit und Sicherheit."

Auch wenn einige der mittel- und osteuropäischen Länder im Umweltbereich mit langen Übergangsfristen rechnen können, geht kein Weg daran vorbei: Die Kläranlagen müssen sauberer, Kraftwerke
schadstoffärmer und Schlachthöfe hygienischer werden. Das könnte
volle Auftragsbücher für viele deutsche Mittelständler aus dem Umwelt- und Gesundheitsbereich bringen.

Bereits jetzt ist der deutsche Handel mit den Beitrittsländern stark mittelständisch geprägt, berichtet Ulrich Dietsch, Geschäftsführer des Ost- und Mitteleuropa Vereins:

2. O-Ton Dietsch (deutsch):
"Unserer Einschätzung nach dürften von den Wirtschaftsbeziehungen, die wir von der deutschen Seite mit den EU-Beitrittskandidaten abwickeln - das waren im ersten Halbjahr 54,4 Milliarden Euro - etwa 40 Milliarden Euro durch deutsche mittelständische Unternehmen bewegt worden sein."

Doch sorgen diese Zahlen keineswegs für nur für Aufbruchstimmung bei den deutschen Mittelständlern. Die EU-Osterweiterung löst bei vielen pure Angst aus. So fürchten Handwerker und Baufirmen in Zukunft nicht mit mehr ihren mittel- und osteuropäischen Konkurrenten mithalten zu können. Das Lohnniveau in den Beitrittsländern betrage gerade einmal ein Fünftel der deutschen Löhne.

Neben der Baubranche sorgen die deutlich niedrigeren Gehälter vor allem im Transportgewerbe für Sorgenfalten. Hans Stapelfeld, Geschäftsführer der Hamburger Spedition Stapelfeld:

3. O-Ton Stapelfeld (deutsch):
"Es kommen aus den östlichen Ländern Fahrer, die arbeiten zwei, drei, vier Monate im Hamburger Raum. Sie schlafen hinten in ihrer Kajüte, fahren dann wieder zurück und können davon ihre Familie sehr gut ernähren. Das entspricht nicht dem Sozialniveau eines deutschen LKW-Fahrers. Es wird dazu führen, dass wir dort viele Arbeitsplätze umbauen müssen."

"Arbeitsplätze umbauen", das könnte heißen, deutsche Arbeiter besser zu qualifizieren und fortzubilden. Dann könnten sie ihr höheres Lohnniveau durch eine entsprechend höhere Produktivität wieder wettmachen. "Arbeitsplätze umbauen" könnte auch heißen, dass
deutsche Unternehmen mit Firmen aus den EU-Beitrittsländern zusammenarbeiten, damit diese arbeitsintensive Tätigkeiten ganz übernehmen. Die deutschen Firmen würden sich dann auf die höher entlohnten Spezialaufgaben konzentrieren.

"Arbeitsplätze umbauen" kann aber auch bedeuten, dass deutsche Unternehmen statt teurer einheimischer Arbeitnehmer günstige Arbeiter aus Mittel- und Osteuropa einstellen. Dafür interessiert
sich nach einer Umfrage der Handwerkskammer Hamburg ein Drittel der Betriebe. Sogar zwei Drittel der Unternehmen sprechen sich gegen
Übergangsfristen beim Zuzug von Arbeitnehmern aus den Beitrittsgebieten aus. Ganz im Gegensatz zu zahlreichen Verbänden des deutschen Mittelstands, die sich bei der Bundesregierung massiv
für lange Übergangsfristen bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte
eingesetzt haben.

Doch nicht alle Verbände denken so: Jürgen Hogefoster, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Hamburg, sieht große Chancen durch die Zuwanderung von Menschen aus den Beitrittsländern.
Ungarn, Polen oder Litauer könnten den für die Zukunft erwartenden Fachkräftemangel beheben. Für Hogefoster brächte eine schnelle
Freizügigkeit noch mehr Chancen:

4. O-Ton Hogefoster (deutsch):
"Ich erhoffe mir, dass durch eine solche Zusammenarbeit der Arbeitskräfte die verkrusteten Strukturen auf den Arbeitsmärkten bei uns aufgebrochen werden. Wir brauchen dringend in hohem Maße Innovationen in der Bundesrepublik Deutschland in allen Bereichen, auch auf den Arbeitsmärkten. Ich glaube, dass wir durch die EU-Osterweiterung Innovationen bekommen, die nur durch Druck entstehen."