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Der Traum vom Überleben

Corina Kolbe4. März 2014

Das Anhaltische Theater Dessau und sein Kurt-Weill-Fest ist durch Sparbeschlüsse von drei Millionen Euro bedroht. Der Protest der Kulturschaffenden gegen die Kulturpolitik heißt "Tweetfonie". Not macht erfinderisch.

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Beim Kurt Weill Fest in Dessau wird die "Tweetfonie" uraufgeführt. (Foto: Sebastian Gündel/DW)
Bild: Sebastian Gündel

Konsequent wurde das diesjährige Motto "Aufbruch: Kurt Weill und die Medien" des Kurt-Weill-Fests Dessau in die Gegenwart gesetzt: Auf einer eigens geschaffenen Website "Tweetfonie" konnten musikbegeisterte Laien und Profis mit Hilfe einer virtuellen Klaviatur eine beliebige Melodie kreieren und dann über den Kurznachrichtendienst Twitter einsenden. Aus Deutschland und der ganzen Welt zwitscherten Teilnehmer ihre kreativen Einfälle - automatisch als Buchstabenkombinationen verschlüsselt - nach Dessau. Das Festivalteam verschickte eine Auswahl weiter an erfahrene Komponisten und Arrangeure, die aus dem Rohmaterial Orchesterkompositionen von jeweils einer Minute Länge bastelten.

Aus dem Drucker aufs Notenpult

In Dessau kamen die Kurzwerke aus den Druckern direkt auf die Notenpulte der Anhaltischen Philharmonie und ihrem niederländischen Chefdirigenten Antony Hermus, die die sogenannte "Tweetfonie" uraufführten. "Nichts ist vorbereitet, wir hatten keine Proben", erklärte Hermus während der Livestream-Übertragung. Auf dem Kopf trug er einen Grubenhelm mit installierter Kamera, die den Zuschauer am Computer hautnah an das Orchester heranführte. Die getwitterten Melodien, die Hermus auf einem elektronischen Keyboard vorspielte, waren mehr oder minder originell. Erstaunlich, wie die Arrangeure die schlichten Vorgaben in kleine Tonkunstwerke verwandelten und das gesamte Orchester einbezogen.

Stimmen der "Tweetfonie" werden auf einem Drucker des Krut-Weill-Fests ausgedruckt und für die Orchestermusiker sortiert. (Foto: Sebastian Gümpel/DW)
Noten aus dem DruckerBild: Sebastian Gündel

Schlichte Vorgaben

Der Dirigent ließ die meisten Stücke zwei Mal hintereinander spielen, feilte an Tempo und Dynamik. "Ich träume so leise von dir" war ein Tweet betitelt, den sich der Avantgarde-Komponist Martin Gerigk vornahm. Kompositionen des Krefelders wurden bereits im Konzerthaus Berlin, der Tonhalle Düsseldorf oder im Leipziger Gewandhaus aufgeführt. Sein niederländischer Kollege Ruud van Eeten versuchte sich an "Für Kurt", einer Hommage des Kurt Weill-Fests an seinen Namenspatron. Das Berliner Jugendorchester-Festival Young Euro Classic lieferte eine Kurzkomposition, die sich in Buchstaben übersetzt "Applaus - Applaus - Applaus" las. Unter den rund 50 Arrangeuren, die sich mit den mehr als 150 Tweets befassten, waren auch der international bekannte katalonische Komponist Ferran Cruixent und der New Yorker Rapper und DJ Gene Pritsker.

Dirigent Antony Hermus leitet die "Tweetfonie" in Dessau mit Grubenhelm und installierter Kamera. (Foto: Sebastian Gündel/DW)
Protest mit GrubenhelmBild: Sebastian Gündel

Geringes Interesse

Als Zuschauer fühlte man sich im Dessauer Theater wie in einer offenen Probe. Manche Kompositionen, die Chefdirigent Hermus in die Hand bekam, konnten nicht sofort gespielt werden, da nicht alle benötigten Instrumente auf der Bühne standen. Doch dann wurde fröhlich improvisiert. Und allen Beteiligten bereitete die Aktion sichtlich Spaß, auch wenn die Stuhlreihen im kleinen Saal nicht bis auf den letzten Platz gefüllt waren. Im Internet blieb das Ereignis offenbar ebenfalls auf einen kleineren Kreis beschränkt. Doch Festival-Geschäftsführerin Julia Nickel freute sich, dass "zeitweise mehr als 100 Menschen" den Livestream am Rechner miterlebt hatten. "Ein echtes Vergnügen, aus der Ferne zuzusehen und zuzuhören", kommentierte ein Twitter-Nutzer die Aktion.

Neueste Computertechnik vernetzt bei der "Tweetfonie" Komposition und Aufführung weltweit. (Foto: Sebastian Gündel/DW)
Konzert einmal andersBild: Sebastian Gündel

Andauernder Versuch

Hat das Experiment nun seine Ziele erreicht, Internetnutzer zum Komponieren zu bewegen, ein neues Klassik-Publikum durch moderne Kommunikationsmittel anzusprechen und mit einem neuartigen Kunstwerk für die Weiterfinanzierung der eigenen, wertvollen Kulturarbeit zu protestieren?

Das auf Unterhaltungsmusik spezialisierte Metropole Orkest in Amsterdam hatte die Vorlage geliefert, 2012 eine "Tweetphony" aufgeführt, um in einer ähnlich prekären Finanzlage internationale Unterstützung zu finden. Immerhin besteht das zum Rundfunkzentrum Hilversum gehörende Orchester nach wie vor und kann mindestens bis 2014 mit staatlicher Förderung rechnen.

In Dessau, wo sich die Vorstellung der Kompositionen über etliche Stunden in die Länge zog, stellte sich die Frage, ob ein solches Experiment über den originellen Momenteindruck hinaus auch neue ästhetische Maßstäbe setzen kann? Dass einzelne Teile zu einem neuen Ganzen zusammengewachsen wären, war bei diesem musikalischen Marathon zumindest nicht erkennbar. Ob die Landesregierung in Sachsen-Anhalt damit umzustimmen war, muss sich erst noch zeigen.