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Griechisches Opfer des NSU-Terrors

Irene Anastassopoulou4. Mai 2013

Der Grieche Theodoros Boulgarides wurde am 15. Juni 2005 in seinem Geschäft in München erschossen - als siebtes Opfer der NSU-Terroristen. Danach wurde seine Familie monatelang krimineller Machenschaften verdächtigt.

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NSU-Opfer Theodoros Boulgaride - (Foto: Irene Anastassopoulou/DW)
Bild: DW/I. Anastassopoulou

Die Schreckensnachricht kam per Telefon. Bekannte seiner Familie riefen an jenem Abend Gavriil Boulgarides zu Hause an, um ihm mitzuteilen, dass sein sechs Jahre älterer Bruder Theodoros in seinem Geschäft ermordet worden war. Wie Kriminalbeamte später herausfanden, wurde er mit drei Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Dabei wurde die gleiche tschechische Pistole, eine Ceska 83, benutzt, wie bei anderen Opfern der NSU-Terrorzelle. Für Gavriil brach die Welt zusammen - seinen leiblichen Vater hatte er kaum gekannt, sein Bruder Theodoros war für ihn wie ein Vater gewesen. "Sie riefen uns an und sagten, dass mein Bruder ermordet wurde, und dann folgte alles Weitere, Fragen und all das Lästige", erinnert sich Gavriil.

Das Grauen am Tatort

Die Nachricht sprach sich schnell in der gesamten griechischen Gemeinschaft Münchens herum. Die Familie lebte seit 1973 dort, war angesehen und sehr bekannt. Zur gleichen Zeit wurde der griechisch-orthodoxe Priester Apostolos Malamoussis angerufen und gebeten, an den Tatort zu gehen, um ein Gebet zu sprechen. "Ich betrat den Laden, wo der Verstorbene mit Schusswunden am Kopf auf dem Boden lag. Dort waren Polizei und Spurensicherung. Ich sagte ihnen, dass ich Priester sei, und dass ich ein Gebet sprechen wollte", berichtet Apostolos Malamoussis. Man zeigte ihm, wo er hintreten könne und wo nicht, damit die Spuren der Mörder nicht verwischt würden.

"Ich fand mich vor einem grauenhaften Anblick wieder, stand vor dem verstorbenen Theodoros, sein Gesicht durch die Kugeln deformiert, in einer riesigen Blutlache. Ich sprach ein Gebet." Danach sei er zum Haus der Angehörigen der Mutter des Verstorbenen gefahren, die in der Nähe wohnten. "Ich versuchte sie von geistlicher Seite so gut zu unterstützen, wie ich nur konnte. Nur war es auch für mich nicht leicht, nach diesem Anblick tröstende Worte zu finden", erzählt der Priester.

Gavriil Boulgarides (links), Bruder von Theodoros Boulgarides mit dem Seelsorger Vater Apostolos Malamoussis (Foto: DW/I. Anastassopoulou)
Gavriil Boulgarides, Bruder von Theodoros, mit dem Seelsorger Vater Apostolos MalamoussisBild: DW/I. Anastassopoulou

Familie wird verdächtigt

Am nächsten Tag begann für die gesamte Familie eine unglaubliche Odyssee: Die Witwe Yvonne Boulgarides und ihre zwei Töchter wurden zum Verhör abgeholt, dann Gavriil, seine Frau, Verwandte, Freunde, Bekannte der Familie und der Witwe völlig unbekannte Menschen. Die Befragungen zogen sich hin - stundenlang, über Tage, über Monate hinweg. Die Fragen drehten sich um das Opfer, seinen Bekanntenkreis, um etwaige Kontakte zu Drogendealern. Es ging um die türkische Mafia, um Prostitutionsringe, um Internetkriminalität, um Wettpaten, um Waffenhändler. Bei den Töchtern wurde nachgefragt, ob ihr Vater sie sexuell missbraucht hatte. Selbst die Witwe Yvonne Boulgarides wurde verdächtigt, sie hätte ihren Mann getötet oder töten lassen.

Eine andere Spur wurde nicht verfolgt, berichtet Gavriil Boulgarides: "Es kam ihnen nicht mal in den Sinn, da einen Zusammenhang mit den anderen Mordopfern zu vermuten, obwohl ich ihnen bei den ersten Verhörterminen selbst gesagt hatte, dass es für mich nach so etwas aussieht. Es kam keine Reaktion. Die stocherten stur weiter in unserem Privatleben herum."

Verlorene Ehre der Familie Boulgarides

Es gab wahllose und scheinbar unendliche Verhöre und lange erkennungsdienstliche Prozeduren. Kriminelle Machenschaften wurden konstruiert. Plötzlich wurde aus dem Opfer Theodoros Boulgarides ein Verdächtiger, und aus dem Mord an ihm wurde Rufmord an seiner ganzen Familie, sagt Angelika Lex, die Rechtsanwältin der Witwe Yvonne Boulgarides: "Man hat ja alles Mögliche unterstellt, ist aber nicht auf das nächstliegende Motiv gekommen, nämlich, dass diese Verbrechen rassistisch motiviert waren."

Es seien hunderte von Zeugen befragt worden, aber nicht dahingehend, ob sie sich einen rechtsradikalen Hintergrund vorstellen könnten. "Dieses Thema kommt in den Ermittlungsakten schlicht und einfach nicht vor. Und das ist eigentlich vollkommen unvorstellbar, wenn ich eine solche Mord-Serie an Personen nichtdeutscher Herkunft habe", sagt die Rechtsanwältin.

Anwältin Angelika Lex (Foto: Daniel Karmann dpa/lby)
"Rufmord an der Familie" - Anwältin Angelika LexBild: picture-alliance/dpa

Flucht aus Deutschland

Für den Bruder des Opfers, Gavriil Boulgarides, wurde das tägliche Leben in München unerträglich. Die Familie wurde von allen Verwandten, Freunden und Bekannten ausgegrenzt. Niemand wollte Kontakt mit ihnen. Selbst innerhalb der Familie gab es Probleme. Es herrschte Misstrauen, Verzweiflung, Fassungslosigkeit. Dann begann man nach Auswegen zu suchen. Der erste Gedanke war: weg aus diesem Land. Aber wohin?

Gavriil Boulgarides erzählt: "Sie können sich ja vorstellen, wie Leute einen mit Fragen belästigten. Griechen, die mit uns überhaupt nichts mehr zu tun haben wollen - das war keine leichte Sache für uns. Da gehen die hin und fragen Menschen, die in deinem Umfeld sind, über deine Familie aus, was das denn für eine Familie sei und ähnliches, und dann wird eben über dich geredet."

Die Familie wurde isoliert, ihr gesellschaftliches Umfeld brach weg. "Wenn niemand mehr etwas mit dir zu tun haben will, ist es sehr schwierig, das Allerschwierigste. Deswegen sind wir 2009 wieder zurück nach Griechenland gegangen, nachdem wir 37 Jahre lang hier gelebt haben."

In der fremden Heimat

In Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands, versuchte Gavriil Fuß zu fassen. Der neue Anfang fiel ihm schwer, das Leben war noch schwieriger als in München. Im krisengebeutelten Land konnte er keine ordentliche Arbeit finden. Er musste Grundstücke verkaufen, um seine Familie zu ernähren. Schließlich bekam er einen Job als Lastwagenfahrer im Ausland. Er bekam keine Hilfe vom Staat, kein Wort des Trostes. Die Heimat wollte nichts von ihm wissen. Sie war ihm fremd, er hatte sich ihr entfremdet.

Nach zweieinhalb Jahren in Griechenland spielte die Familie mit dem Gedanken, wieder nach München zurückzukehren. Inzwischen wurden in Deutschland die Mörder enttarnt. Der Priester Apostolos Malamoussis überredete sie schließlich zur Rückkehr. Durch seine tatkräftige Unterstützung hat die Familie Boulgarides wieder eine Wohnung gefunden. Heute arbeitet Gavriil als Fahrer der städtischen Müllabfuhr, seine Frau als Putzfrau beim Justizministerium. Die Stadt München bemüht sich, die Fehler aus der Vergangenheit wieder gut zu machen. Dafür ist Gavriil dankbar.

Außenaufnahme von dem damaligen Geschäft (Schlüsseldienst) von Theodoros Boulgarides in München. Heute befindet sich dort ein Döner Laden. (Foto: DW/I. Anastassopoulou)
Das damalige Geschäft von Theodoros Boulgarides in MünchenBild: DW/I. Anastassopoulou

"Es geht um die Wahrheit"

Von dem NSU-Prozess erhofft er sich die Wahrheit zu erfahren: Warum konnten so massive Pannen bei der Aufklärung geschehen? Warum sind die Sicherheitsbehörden nicht allen Spuren nachgegangen? Welche Rolle haben die V-Männer gespielt? Warum wurde ausgerechnet sein Bruder von den Tätern ausgewählt? Allein die These, wonach Theodoros mit einem Türken verwechselt worden sei, reicht seinem Bruder Gavriil nicht aus.

"Inwiefern und in welchem Maße die Wahrheit enthüllt werden wird, das ist schwer abzusehen. In diesem Prozess treten wir als Nebenkläger auf. Hätte die Polizei einige Hinweise in Bezug auf andere Morde richtig ausgewertet, wäre mein Bruder vielleicht nie getötet worden", meint Gavril. Er glaubt, dass die Ermittler zwischen 2001 und 2003 über zahlreiche Hinweise verfügten, sie aber weitgehend ignorierten. "Und mein Bruder wurde im Juni 2005 ermordet. Das sind die Dinge, die uns beschäftigen", sagt Gavriil.

Die Witwe Yvonne Boulgarides hat ebenfalls eine harte Zeit hinter sich. Sie verlor ihren Job und versuchte ohne Erfolg, einen neuen zu finden. Heute hat sie eine Arbeitsstelle bei einem kleinen Dienstleistungsbetrieb. Sie ist misstrauisch geworden und versucht, sich auf den Prozess zu konzentrieren. Ihr gehe es nicht um eine möglichst hohe Strafe für die Täter oder um Rache, sondern vor allem um Aufklärung, sagt Rechtsanwältin Angelika Lex: "Warum musste ihr Mann sterben, warum ist er als Opfer ausgewählt worden, warum ist dieser Ort für die Tat ausgewählt worden und dann natürlich auch, warum diese Mordserie nicht schon viel früher gestoppt worden ist."