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Der langsame Tod der russischen Luftfahrt

Killian Bayer Riga
17. November 2022

Die totgesagte russische Luftfahrt fliegt immer noch, trotz internationaler Sanktionen. Doch wie lange kann das gut gehen ohne die Zufuhr von wichtigen Ersatzteilen? Oder kann Moskau kritische Teile selbst ersetzen?

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Boeing 777 der staatlichen Airline Aeroflot auf dem Rollfeld
Landung einer Boeing 777 der staatlichen Airline Aeroflot in MoskauBild: Reuterrs/M. Shemetov

Im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Experten ist die russische Luftfahrtbranche nicht unmittelbar nach dem Inkrafttreten internationaler Sanktionen implodiert. Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sperrte die westliche Staatengemeinschaft ihren Luftraum für russische Flugzeuge. Zahlreiche Airlines beendeten ihre Kooperationen mit russischen Partnern und die Luftfahrtgiganten Airbus und Boeing stellten die Lieferungen von Ersatzteilen nach Russland ein.

Schnell waren sich viele Stimmen einig: Die russische Luftfahrtindustrie überlebt keine zwei Wochen. Doch mehr als ein halbes Jahr später scheint sich das nicht bewahrheitet zu haben. In Russland hat sich für die meisten Passagiere, zumindest auf Inlandsflügen, fast nichts verändert. Wie kann das sein?

"Es liegt an einer Kombination verschiedener Ursachen", sagt der US-amerikanische Luftfahrtexperte Richard Aboulafia von der Consultingfirma AeroDynamic Advisory. "Durchlässige Sanktionen, vorhandene Ersatzteillager, kreative Notlösungen und das Kannibalisieren der vorhandenen Flugzeugflotte."

Heckleitwerk von Maschinen der staatlichen Aeroflot, die hintereinander aufgereiht an einem Terminal am Flughafen Moskau-Scheremetjewo stehen
Maschinen der staatlichen Aeroflot am Flughafen Moskau-ScheremetjewoBild: Leonid Faerberg/Aviation-Image/picture alliance

Die Kannibalisierung der russischen Luftfahrt

Russlands Airlines betrieben vor dem Beginn des Ukraine-Krieges mehr als 800 Flugzeuge fast ausschließlich westlicher Bauart. Insgesamt wurden im Jahr 2019, vor der Coronakrise, mehr als 120 Millionen Passagiere von russischen Airlines befördert, so ein von der russischen Staats-Airline Aeroflot herausgegebener Überblick. Mehr als die Hälfte davon flog auf internationalen Routen. Doch seit dem Ausbruch des Krieges sind diese internationalen Flug-Routen, aufgrund der Sanktionen, fast komplett eingestellt worden.

Laut Aboulafia sei das Wegbrechen fast 50 Prozent der Flugrouten gleichzeitig ein Segen für russische Airlines. Denn der gesunkene Bedarf ermöglicht das Ausschlachten vieler Flugzeuge, die am Boden bleiben müssen. "Es ist nun deren Priorität, Inlandsflüge zu erhalten. Und wenn man sich keine Sorgen mehr machen muss, die internationalen Routen zu bedienen, dann kann man seiner Flotte eine Menge Meilen ersparen. Somit kann man diese freigewordenen Ressourcen und Ersatzteile in den Inlandsbetrieb stecken."

So sieht das auch die russische Luftfahrtbeobachterin Anastasia Dagaeva: "Angesichts der Tatsache, dass es weniger Flugreisen und mehr am Boden stehende Maschinen gibt und es gleichzeitig noch keine Optionen gibt, an kritische Komponenten zu kommen, dann ist das Zerlegen von Flugzeugen für Ersatzteile natürlich einer der Auswege."

Wie abhängig ist die russische Luftfahrtindustrie von ausländischen Teilen?

Die russische zivile Luftfahrtindustrie verwendet heutzutage fast ausschließlich moderne Passagiermaschinen von Boeing und Airbus. Diese Flugzeuge sind zum größten Teil geleast und gehören ausländischen Investoren.

Dies sei eine Folge des Vertrags von Kapstadt aus dem Jahr 2001, erklärt Aboulafia. "Dieser Vertrag erlaubt Investoren anzunehmen, dass alle beteiligten Staaten ein geringes Kreditrisiko darstellen." In der Folge führte das dazu, dass ein Entwicklungsland wie Russland in den 2000er Jahren seine alte Flugzeugflotte aus Sowjetzeiten erneuern konnte. Mit den modernen westlichen Jets wurden auch neue Sicherheitsstandards und Wartungsintervalle in der russischen Luftfahrt etabliert. "Das führte zu einem sofortigen massiven Sprung bei Sicherheit und Effizienz."

Ein Suchoi Superjet 100 im Steigflug
Suchoi Superjet 100 - die russische Eigenentwicklung kann das Fehlen von Boeing und Airbus nicht auffangen. Zudem stammen wichtige Teile aus Frankreich (Triebwerke) und den USA. Bild: picture-alliance/dpa/T. Eisenhuth

Als der Krieg in der Ukraine begann, verlangten viele ausländische Investoren ihre Leasing-Flugzeuge zurück - immerhin mehr als 500 Jets mit einem Wert von über zehn Milliarden Dollar. Doch im März unterschrieb Präsident Wladimir Putin ein neues Gesetz, welches die Ummeldung und Registrierung dieser Flugzeuge in Russland ermöglichte. "Im Endeffekt haben wir diese Flugzeuge gestohlen", gibt der russische Luftfahrtexperte Vadim Lukaschevich zu. "Jetzt ist es unsere Aufgabe, Ersatzteile zu stehlen. Das ist heute eine Frage des Überlebens der zivilen Luftfahrt [in Russland]."

Der Iran war ebenfalls eine große Hoffnung für die russische Luftfahrt. Das international isolierte Land lebt seit Jahrzehnten unter Sanktionen und hat diverse Methoden entwickelt, diese zu umgehen. Allerdings hat sich diese Hoffnung nicht bewahrheitet.

Sterben auf Raten

Der Iran nutze Flugzeuge aus den 70er und 80er Jahren, weiß Luftfahrtexperte Aboulafia. Diese Flugzeuge seien weniger abhängig von Halbleitern und Softwareupdates. "Man kann sich bei älteren Flugzeugen viel leichter durchmogeln", erklärt Aboulafia. Russland hingegen nutze sehr moderne Flugzeuge, die genau auf diese Technologien angewiesen sind. "Diese Sanktionen stellen ein enormes Problem für die russische Luftfahrtbranche das. Russland hat keine eigene nennenswerte [zivile] Kapazität für die Flugzeugproduktion."

Gleichzeitig seien westliche Hersteller sehr gut darin, einen Überblick über ihre Ersatzteillieferungen zu behalten. Dies mache es sehr schwer für Russland, an Teile aus anderen Ländern zu kommen, so Aboulafia.

"Ich nehme an, dass man irgendwann einen starken Einbruch sehen wird. Teile hier und da zu besorgen, funktionierende Maschinen auszuschachten - das geht sechs bis zwölf Monate gut. Danach weiß ich nicht wie das weitergehen soll."

Was für den amerikanischen Luftfahrtexperten Aboulafia aber fast noch stärker ins Gewicht fällt, ist die Verletzung des Kapstadt Vertrags. "Niemand wird mehr in Zukunft die Lieferung von Investitionsgütern nach Russland finanzieren." Das bedeutet in absehbarer Zeit wird es auch keine neuen Flugzeuge mehr geben.