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PolitikNahost

"Islamischer Staat": Geschwächt, aber immer noch gefährlich

Kersten Knipp | Jennifer Holleis
25. Januar 2022

Der Überfall auf ein Gefängnis im Nordosten Syriens zeigt, wie stark die Terrororganisation "Islamischer Staat" weiterhin ist. Die Dschihadisten haben ihre Strategie den Missständen in der Region längst angepasst.

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Syrien | Kämpfe zwischen dem IS und der syrischen Armee
IS-Kämpfer ergeben sich in Al-Hasaka den kurdischen Sicherheitskräften, 24.01.2022 Bild: Kurdish-led Syrian Democratic Forces/AP Photo/picture alliance

Der Ring der Sicherheitskräfte zieht sich zu, doch aufgegeben haben die Dschihadisten noch nicht. Zahlreiche Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS, teils auch ISIS genannt) halten sich weiter in einem Gefängnis in der im Nordosten Syriens gelegenen Stadt Al-Hasaka verschanzt. Dieses hatten sie am Donnerstag vergangener Woche gestürmt, um die darin einsitzenden Mitglieder ihrer Organisation zu befreien.

Rund 3500 Dschihadisten befanden sich in dem Gefängnis, um das nach der Besetzung ein Kampf von außergewöhnlicher Heftigkeit ausbrach. Kräfte der kurdisch dominierten "Syrian Democratic Forces" (SDF) sowie Sicherheitskräfte der autonomen kurdischen Region Rojava umstellten das gesamte Stadtviertel. Unterstützt im Kampf gegen die Terroristen wurden sie von amerikanischen Kampfjets und Hubschraubern. Doch auch sie konnten den Besatzern offenbar nicht so leicht beikommen.

Inzwischen sind die Kämpfe zwar abgeschwächt, dauern aber weiterhin an. Bislang forderten sie Agenturberichten zufolge zwischen 160 und 260 Tote, unter ihnen auch rund 45 kurdische Sicherheitskräfte. Wie viele der inhaftierten Dschihadisten entkommen konnten, ist derzeit ungeklärt. Nach Darstellung des kurdischen Rojava Information Center hatte es bereits im Dezember einen Befreiungsplan gegeben, der aber vereitelt wurde.

Die Sicherheitskräfte sind offenbar entschlossen, den Kampf gegen die Terroristen bis zum äußersten Ende zu führen. Das deutet zumindest eine von der syrischen Presseagentur North Press Agency verbreitete Erklärung des Generalkommandos der SDF an. "Wir werden die Überreste der Terrororganisation beseitigen, sie vollständig ausrotten und die Welt von diesem Übel befreien", zitiert die Agentur die kurdischen Kämpfer. "Dies ist unsere Entscheidung, und unsere Antwort auf den ISIS-Angriff wird entsprechend sein."

Machtdemonstration

Der Angriff auf das Gefängnis werten Experten als Machtdemonstration des IS. Tatsächlich sei dieser zwar schwächer als zur Zeit seiner Herrschaft über weite Teile des Irak und Syriens von 2014 bis 2016, sagt Jassim Mohamad, Gründer und Direktor des "European Center for Counterterrorism and Intelligence Studies" (ECCIS). Doch immer noch sei der IS relativ stark in der Region. "Er vermag zwar nicht mehr wie früher ganze Städte zu kontrollieren. Aber in einigen entlegenen Wüsten- oder Gebirgsgegenden hat er immer noch Rückzugsgebiete."

Außerdem lasse der Angriff einen Strategiewechsel des IS erkennen, so Mohamad weiter. "Inzwischen greift er vor allem staatliche Einrichtungen an wie zum Beispiel Kasernen oder eben auch Gefängnisse. Dafür verzichtet er auf Angriffe auf zivile Ziele, die durch den zehnjährigen Krieg allerdings zu großen Teilen ohnehin bereits zerstört sind. Damit will er vermeiden, die Bevölkerung gegen sich aufzubringen", so Jassim Mohamad im Gespräch mit der DW.

ISIS Gefängnis in Hassaka
IS-Kämpfer im Gefängnis von Al-HasakaBild: picture alliance/dpa/ZUMA Wire

Aus Not zum IS

Die Rekrutierungschancen für Dschihadisten-Nachwuchs stehen derzeit offenbar nicht schlecht. Syrien durchleidet eine der schlimmsten Dürre- und Hitzeperioden seit 70 Jahren. Das Trinkwasser ist knapp, Landwirte sehen sich gezwungen, ihre Höfe aufzugeben. Viele Flüsse versiegen. Und diejenigen, die noch Wasser führen, sind vielfach verschmutzt. Hinzu kommt die generelle Unsicherheit, hervorgerufen durch die Abwesenheit einer funktionierenden ordnenden Staatsgewalt vielerorts. Der Zusammenbruch der Währung sowie die internationalen Sanktionen gegen das Assad-Regime schwächen Wirtschaft und Gesellschaft weiterhin. Dies alles erleichtert es den Dschihadisten, Arme und Unzufriedene zu rekrutieren 

Auch der benachbarte Irak ist von einer Hitzeperiode betroffen. Eine über weite Strecken mangelhafte Infrastruktur macht auch dort vielen Menschen das Leben schwer. Hinzu kommen die weiterhin bestehenden politischen und konfessionellen Spannungen, angeheizt nicht zuletzt durch dem Iran-nahe Milizen wie etwa den Kata'ib Hisbollah. Zwar stehen viele Iraker - einschließlich der Sunniten - dem IS heute ideologisch eher fern und sind nach dessen Schreckensherrschaft oftmals auch noch weiter deutlich auf Distanz zu ihm gegangen. Dennoch vermag sich die Terrorgruppe weiterhin die Notlage und die Frustration betroffener Menschen zunutze zu machen.

"Das große Problem ist das Regierungs- und Sicherheitsvakuum in Syrien und Irak", sagt Julian Barnes Dacey, Leiter des MENA-Programms des Think Tank European Council on Foreign Relations. "Im Grunde handelt es sich um zwei scheiternde Staaten. Dieser Umstand bietet dem IS hinreichende Rückzugsmöglichkeiten und erlaubt ihm, lokale Missstände für seine Zwecke auszunutzen."

Karte Syrien Irak DE

Geschickte Selbstinszenierung

Immer mehr versuche der IS, sich geschickt als Stimme der Benachteiligten zu inszenieren, sagt auch Jassim Mohamad. Er versuche gezielt, die notleidenden Menschen gegen die Regierungen aufzubringen. "So versucht der IS auf seine Weise, von der schlechten Regierungsarbeit in beiden Ländern zu profitieren."

Möglich ist dem IS dies auch, weil er über hinreichende Mittel verfügt, um neu rekrutierte Mitglieder auch zu entlohnen. Trotz des Niedergangs seines Kalifats verfüge der IS weiterhin über umfassende Finanzsysteme", heißt es in einer Studie des US-Finanzministeriums aus dem vergangenen Jahr. So finanziere sich die Gruppe sowohl in Syrien wie im Irak durch Erpressung lokaler Unternehmen, Entführungen und Plünderungen.

Außerdem flössen über Gelddienstleistungsunternehmen und Kuriere, darunter das informelle sogenannte Hawala-Netzwerk, weiterhin beträchtliche Summen aus dem Ausland zu. "Zusätzlich zu den Einnahmen aus ihren illegalen Finanzaktivitäten hat der IS auch Zugang zu Bargeldreserven in Höhe von mehreren zehn Millionen Dollar, die in der gesamten Region verteilt sind", heißt es in der Studie. Mit Hilfe einer Reihe von im Irak, in Syrien und der Türkei ansässigen Finanztransfer-Dienstleistern gelinge es dem IS zudem, seine Beteiligung an solchen Transaktionen den Behörden gegenüber zu verschleiern.

Syrien Irak Islamischer Staat (IS)
Ausschnitt aus einem Propagandavideo des IS aus dem Jahr 2015Bild: Dabiq/Planet Pix via ZUMA Wire/ZUMAPRESS/picture alliance

Gestohlene Waffen

Mit dem Angriff auf das Gefängnis hat der IS vor allen Dingen aber auch gezeigt, dass er nach wie vor über ein beachtliches Waffenarsenal verfügt. Laut Experte Jassim Mohamad sind dies zum einen Waffen, die aus dem Bestand der irakischen Armee gestohlen wurden. Zum anderen hab er schon vor längerer Zeit zahlreiche weitere Waffen "in Verstecken wie etwa austrockneten Brunnen" deponiert.

Mit einer neuerlichen Machteroberung des IS rechnet absehbar zwar niemand in Syrien oder im Irak. Denn im Vergleich zum Höhepunkt seiner Macht um 2015/2016 hat er deutlich an Stärke verloren. Damals war der Islamische Staat die reichste dschihadistische Organisation der Welt, mit einem Vermögen von über 2 Milliarden Dollar und bis zu 100.000 Kämpfern im Irak und in Syrien, wie zahlreiche Quellen berichten. An diese Stärke reicht er längst nicht mehr heran. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen stehen heute nur noch rund 10.000 Kämpfer in seinen Reihen. 

Dennoch dürfte der IS bis auf Weiteres eine vergleichsweise schlagkräftige Organisation bleiben, sagt Julien Barnes-Dacey. Zumindest lokal begrenzte Attacken bleiben absehbar eine stete Gefahr. Barnes-Dacey: "Solange die Bedingungen in beiden Ländern instabil und prekär bleiben und Fragen wie Regierungsführung oder die Sicherheit nicht zufriedenstellend geklärt sind, wird der IS auch Gelegenheiten finden, die Lage auszunutzen und neue Angriffe zu starten."

 

Der vorliegende Beitrag wurde am 26.01.2022 aktualisiert und ergänzt.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika