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Unwürdiges Spiel mit Kriegsgefangenen

Roman Goncharenko21. August 2015

Der in Minsk vereinbarte Gefangenenaustausch im Ukrainekonflikt stockt seit Monaten. Die Hintergründe sind unklar. Hunderte Menschen auf beiden Seiten leiden, manche werden gefoltert.

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Gefangenenaustausch in Lugansk (Foto: Taras Dudnik/TASS)
Gefangenenaustausch in LuganskBild: picture-alliance/dpa/T. Dudnik

Es könnte jeden Tag klappen. Oder auch nicht. Mindestens zweimal innerhalb weniger Wochen wurde der Austausch von 13 ukrainischen Kriegsgefangenen gegen prorussische Separatisten in letzter Minute gestoppt - wie jüngst Mitte August. "Die ukrainische Seite behindert den Austausch der Kriegsgefangenen", sagte am Freitag ein Vertreter der prorussischen Separatisten in der ostukrainischen Stadt Luhansk. Kiew spiele "ein unklares Spiel". Zuvor erhob ein hochrangiger Mitarbeiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU ähnliche Vorwürfe gegen die Separatisten. Details sind unbekannt.

Es ist ein weiteres Bespiel dafür, dass die im Februar in Minsk vereinbarte Freilassung der Gefangenen nicht funktioniert. Das Dokument schreibt einen Austausch nach dem Prinzip "alle gegen alle" fest. Doch in Wirklichkeit werden nur kleine Gruppen freigelassen. Gerade kamen am Donnerstagabend vier ukrainische Zivilisten in Donezk frei. Anfang August wurden sechs Menschen ausgetauscht, darunter drei ukrainische Militärs.

Gefangen und gefoltert

Die Angaben darüber, wie viele Menschen noch festgehalten werden, gehen auseinander. Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Iryna Heraschenko, die sich im Rahmen der sogenannten Minsker Kontaktgruppe um den Gefangenenaustausch kümmert, schrieb am Donnerstag auf ihrer Facebook-Seite, es seien noch 167 Ukrainer in den Händen der Separatisten. Die Separatisten nennen eine deutlich niedrigere Zahl. Sie behaupten ihrerseits, in der Ukraine seien mehr als 1000 ihrer Anhänger in Haft. Die meisten seien Zivilisten. Eine genaue Zahl lässt sich kaum feststellen. SBU ließ eine DW-Anfrage unbeantwortet.

Dmytro Kulisch war mehr als neun Monate Teil dieser Statistik, bis er am 3. Juni ausgetauscht wurde. Der 38-jährige Ukrainer aus Kiew kämpfte im Freiwilligenbataillon Donbass und geriet nach der Kesselschlacht von Ilowajsk Ende August 2014 in Gefangenschaft. Auf früheren Fotos sieht der zwei Meter große Kulisch, der vor dem Krieg als Sicherheitsmann gearbeitet hatte, wie ein Schrank aus. Heute liegt er abgemagert im Krankenhaus und versucht, seine Wunden auszukurieren. "Ich habe etwa ein Dutzend Knochenbrüche, darunter ist auch die Wirbelsäule", erzählt Kulisch über seine Gefangenschaft in der Separatistenhochburg Donezk. Man habe ihn mit Schlagstöcken und Kabeln geschlagen und mehrmals seine Erschießung vorgetäuscht.

Dmytro Kulisch mit Ehefrau Switlana (Foto: Privat/DW)
Dmytro Kulisch mit Ehefrau SwitlanaBild: privat

Solche Folter der Gefangenen gebe es auf beiden Seiten, stellte die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" (AI) im Mai in einem Bericht fest. AI konnte dokumentieren, wie ein Separatistenkommandeur gefangene ukrainische Soldaten eigenhändig erschoss. "Wir haben festgestellt, dass die Rechte der Kriegsgefangenen am stärksten verletzt werden von Einheiten, die in keine formellen Strukturen eingebunden sind", sagt Tetjana Masur, Leiterin der AI-Vertretung in der Ukraine. Auf der Seite der Separatisten sei das vor allem das Bataillon Prisrak (Geist) und auf der ukrainischen Seite Kämpfer der rechtsextremen Gruppierung Der Rechte Sektor.

Freilassung dank Ehefrau

Dass Dmytro Kulisch heute frei ist, verdankt er seiner Ehefrau Switlana. "Zunächst habe ich Briefe an das Verteidigungsministerium und den Sicherheitsdienst SBU geschrieben", erzählt sie. Ohne Erfolg. Dann versuchte Switlana ihr Glück über private Kontakte. Ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter und ein Musikproduzent versprachen zu helfen, allerdings nicht umsonst. "Beim ersten Gespräch wollten sie 300.000 US-Dollar haben, die angeblich von den Separatisten verlangt werden", berichtet Switlana. Man habe sich auf 150.000 Dollar geeinigt. Ein Drittel der Summe - 50.000 Dollar - habe sie in drei Tagen bei Freunden und Bekannten gesammelt und übergeben. Doch auch dann kam ihr Mann Dmytro nicht frei. "Ich habe verstanden, dass ich reingelegt wurde", sagt Switlana.

Nach diesem Vorfall sei kein Geld geflossen, geholfen habe eher ein Zufall. Ende Mai geriet der Sohn eines Separatisten in ukrainische Gefangenschaft. Sein Vater bot einer Gruppe ukrainischer Aktivisten einen Tausch an. Switlana ergriff die Initiative, setzte nach eigenen Angaben die ukrainischen Behörden unter Druck und bekam nun Hilfe. Am Abend des 3. Juni wurde ihr Mann Dmytro auf einer Landstraße bei Donezk ausgetauscht. Einen Monat nach seiner Freilassung bekam Dmytro die 50.000 Dollar, die seine Frau einem Politiker gezahlt hatte, zurück.

Fehlende Koordinierung

Heute setzen sich Dmytro und Switlana für die Freilassung der noch Inhaftierten ein. Beide kritisieren, dass es in der Ukraine keine zentrale Stelle gibt, die sich um die Freilassung von Kriegsgefangenen kümmert. Es existieren sowohl staatliche Strukturen als auch private Initiativen. Eine solche hat Wolodymyr Ruban ergriffen, General-Oberst a.D., der in Kiew das von ihm gegründete Zentrum für Freilassung von Gefangenen leitet. Der 48-Jährige scheint Einfluss zu haben. Nach eigenen Angaben hat er seit Mai 2014 mehr als 600 Menschen ausgetauscht oder in Sicherheit gebracht. Einige frühere Kriegsgefangene werfen Ruban allerdings vor, Geld für seine Hilfe genommen zu haben. Er weist das zurück: "Das ist unter menschlicher Würde, das ist Menschenhandel."

Ruban bestätigt, dass es in der Ukraine kein für alle zuständiges Zentrum für Gefangenenaustausch gebe. "Manchmal gibt es Konkurrenz, damit soll jetzt Schluss sein", sagt er. "Wir verhandeln darüber, unsere Kräfte zu bündeln."

Noch mehr Einfluss scheint Viktor Medwetschuk zu haben. Der 61-Jährige vertritt die Ukraine in der Minsker Kontaktgruppe und betreut den Gefangenenaustausch. Medwedtschuk ist ehemaliger Präsidialamtsleiter und hat den Ruf eines prorussischen Politikers. Er war zum Beispiel gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union.

General a.D. Wolodymyr Ruban (Foto:http://www.tagesschau.de)
Umstrittener Helfer: General a.D. Wolodymyr RubanBild: tagesschau.de

Medwedtschuk gilt als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Eine Vertreterin des Separatisten sagte einmal, sie akzeptiere nur Medwedtschuk als Verhandlungspartner. Seine Motive und seine Rolle dabei sind umstritten. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU lobte jüngst seinen "unermüdlichen Einsatz". Doch einige ehemalige Kriegsgefangene wie Dmytro Kulisch werfen Medwedtschuk vor, den Austausch gebremst zu haben. Die DW bat Medwedschuk um eine Stellungnahme - ohne Antwort.

Stolperstein Amnestie-Gesetz

Neben den unterschiedlichen Persönlichkeiten und deren Interessen scheint es noch einen sachlichen Grund für den schleppenden Gefangenenaustausch im Ukrainekonflikt zu geben. Die Separatisten verlangen von Kiew eine Amnestie für ihre Kämpfer und Aktivisten. Das ist Teil des Minsker Papiers. Vertreter der Separatisten beschreiben diesen Punkt als besonders wichtig für den Gefangenenaustausch. Doch Kiew verweist darauf, dass die Separatisten andere Punkte der Vereinbarungen verletzt hätten, und scheint für eine umfassende Amnestie noch nicht bereit.

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