Das neue Buddenbrookhaus – ein Museumsexperiment
Das Buddenbrookhaus in Lübeck hat sich etwas Besonderes einfallen lassen, um eigene Wege in der Museumsarbeit zu gehen: Jugendliche arbeiten an der Gestaltung von Ausstellungen des „neuen“ Hauses mit.
Das Buddenbrookhaus in der norddeutschen Stadt Lübeck ist ein Anziehungspunkt, nicht nur für literaturbegeisterte Besucher und Besucherinnen aus der ganzen Welt, die sich für die Familie von Thomas und Heinrich Mann interessieren. Es gehört zur Stadt Lübeck dazu wie das Goethehaus zu Frankfurt am Main. Weil das bestehende Museum aber aus verschiedenen Gründen nicht mehr zeitgemäß ist und auch keinen Platz mehr bietet für die immer größer werdende Bibliothek und die Sammlungen, wird es um einen Neubau erweitert. Und weil das „neue“ Museum – wie es heißt – „ein musealer Erlebnisraum sein soll, der spielerisch konzipiert ist und den Besucher zur Interaktion auffordert“, kam die Leitung auf die Idee, diejenigen in die Neugestaltung einzubinden, die hier gewissermaßen „Experten“ sind: Jugendliche. Seit 2015 zeigt das Buddenbrookhaus jährlich eine von Jugendlichen gestaltete sogenannte Laborausstellung, ähnlich einem Versuch in einem wissenschaftlichen Labor.
„Rebellisch, und …/ Emanzipiert später … / Verantwortung für das Erbe …“
Die Laborausstellung für 2017 steht unter der Überschrift: „What a family! – Die Manns von 1945 bis heute“. Einmal pro Woche treffen sich acht Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschüler der Lübecker Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen im Seminarraum des Museums, um diese Ausstellung mitzugestalten. Dieses Mal geht es darum, sich die einzelnen Familienmitglieder „der Manns“ genauer anzuschauen. Auf dem Boden des grauen Teppichbodens sind Fotos der sechs Kinder von Thomas Mann ausgebreitet, als diese schon erwachsen sind. Daneben liegen Zettel mit den Charaktereigenschaften: Michael war sympathisch, Klaus dagegen jähzornig, konnte aber auch charmant sein, Golo wirkte tollpatschig – so beschreiben die Jugendlichen die drei Söhne des Schriftstellers. Vor dem Projekt wussten die 16- und 17-Jährigen nicht viel bis gar nichts über „die Manns“, wie Schüler Sinan offen zugibt. Aber das habe sich schnell geändert, was auch gut sei, wie er meint:
„Man kann ‘ne Menge lernen. Und als Lübecker sollte man auf jeden Fall über ‚die Manns‘ Bescheid wissen.“
Schließlich stammt die Schriftstellerfamilie aus der Hansestadt. Allerdings ist das Wissen über „die Manns“ keine Voraussetzung, um bei dem Projekt mitzumachen. Denn es kommt auf etwas anderes an, erklärt Ann Luise Kynast, die das Schülerprojekt koordiniert:
„Uns geht es darum, dass die Jugendlichen ihre Belange vertreten, also ihre Interessen, und quasi die Anwälte ihrer Generation sind sozusagen. Das sind unsere jugendlichen Co-Kuratorinnen und Co-Kuratoren. Die schauen, dass sie da ‘n stückweit ihre Sehgewohnheiten angenommen finden und die sich ernst genommen fühlen wollen in so ‘ner Ausstellung.“
Normalerweise werden Museumsausstellungen von einer sogenannten Kuratorin beziehungsweise einem Kurator konzipiert, Personen, die diese Ausstellungen planen und gestalten, sie kuratieren. Der geplante Umbau des Hauses bot eine gute Gelegenheit, Jugendliche an der Konzeption des „neuen“ Museums zu beteiligen, sie den eigentlichen Expertinnen beziehungsweise Experten zusätzlich, als Co-Personen, an die Seite zu stellen. Denn unter den etwa 50.000 Besuchern, die sich jedes Jahr das Buddenbrookhaus in der Altstadt von Lübeck anschauen, sind sehr viele Schulklassen. Dabei ist es der Leiterin des Buddenbrookhauses, Birte Lipinski, sehr wichtig, offen für die Ideen der jungen Kuratorinnen und Kuratoren zu sein:
„Gewöhnlich ist es ja oft so, dass ein Museum geplant wird und am Ende geht ein Museumspädagoge durchs Haus und durch die fertige Ausstellung und überlegt sich, was man dort mit Schülern machen kann. Wir wollten’s mal umgekehrt machen und die Schüler von Anfang an beteiligen, und zwar gerade deshalb, weil das einfach auch ein wichtiger Bildungsort hier ist und Schüler eine unserer Hauptzielgruppen sind. Und insofern sollte man deren Bedürfnisse, deren Interessen auch ernst nehmen.“
Und dafür bietet das Museum den Jugendlichen sehr viel Freiraum. Sie arbeiten ganz praktisch an verschiedenen Ausstellungsbereichen mit oder geben grundsätzliche Wünsche zu den Inhalten weiter, sagt Birte Lipinski:
„Der Wunsch nach Gegenwartsbezug war wirklich sehr, sehr stark bei den Jugendlichen. Das ist etwas, was in Literaturmuseen nicht sehr häufig mitgedacht wird. Und ich freue mich, dass die Jugendlichen diesen Wunsch so stark geäußert haben, weil ich glaube, dass gerade der Punkt des Gegenwartsbezugs einer ist, der kuratorisch sehr herausfordert, der auch nicht immer einfach ist; man will da ja auch keine zu einfachen Parallelsetzungen machen. Aber gerade im Bereich der Familie Mann gibt es zum Beispiel politische Anknüpfungspunkte. Die Frage nach Europa zum Beispiel ist eine, die ist aktuell unheimlich virulent, damit haben ‚die Manns‘ sich ganz stark auseinandergesetzt. Das heißt, manchmal stoßen einen die Jugendlichen auch auf solche Dinge, die wirklich inhaltlich noch einen Schwerpunkt der neuen Ausstellung bilden können – und das finde ich besonders spannend.“
Den Jugendlichen war es unter anderem wichtig, Anknüpfungspunkte zu finden, also Themen, Entwicklungen, zu finden, die nicht nur damals, sondern auch heute noch eine Rolle spielen. Da bot sich das Thema Europa an. Die Familie Mann verließ Europa vor dem Zweiten Weltkrieg, siedelte in die USA über und kehrte erst 1952 wieder nach Deutschland zurück. Flucht und Vertreibung sind auch Themen, denen sich die europäischen Staaten heutzutage stellen müssen. Sie sind virulent, akut und dringend. Die Jugendlichen stoßen die Experten auf diese Parallelen, machen sie offenbar. Für den eigentlichen Kurator der Sonderausstellung, Tilmann Lahme, ist ungewohnt, dass sich Außenstehende in seine Arbeit einmischen:
„Wenn man das so sieht, dann ist das natürlich erst einmal fürchterlich. Aber man muss halt auch sagen, was das Ganze hier soll. Das ist ja keine normale Ausstellung, sondern das ist ein Experiment, ist ‘ne Laborausstellung. Das sind alles auch Versuche und Experimente, wie man eben mal ‘n anderen Zugang versuchen kann und wie man eben auch andere Perspektiven aufnehmen kann. Das mag dann im Einzelfall einen irgendwie auch mal stören oder dass man als Kurator in seiner Ehre da getroffen ist, oder so. Das muss man dann alles zur Seite drängen und sich sagen: ‚Nein! Aber das ist trotzdem ‘n spannendes Experiment‘.“
Ein Experte wie der Literaturhistoriker Tilman Lahme, der sich schon lange mit der Familie Mann befasst und mehrere Bücher über sie veröffentlicht hat, kann sich schon mal in seiner Ehre getroffen fühlen, gekränkt sein, wenn die Jugendlichen eigene Ideen einbringen. Allerdings, so Tilman Lahme, muss man das Gefühl zur Seite drängen, es nicht beachten. Heute sitzt der Kurator mal wieder mit im Stuhlkreis und hört sich interessiert an, was die Schülerinnen und Schüler bisher über die Familie in Erfahrung gebracht haben. Er ist nicht bei jedem Treffen dabei, sondern nur, wenn es um inhaltliche Fragen geht, wenn es darum geht, die Jugendlichen zu beraten oder Wissenslücken zu füllen. So klebt beispielsweise an dem Bild von Elisabeth Mann ein kleiner gelber Zettel. Darauf haben die Schüler in Stichworten notiert, was sie über die eine der drei Töchter von Thomas Mann wissen: „Umweltschutz, frei und unabhängig, laute Meinung in der Welt“ – Stichworte, die Tilman Lahme gerne ausschmückt. Denn Elisabeth Mann galt als die größte Tierfanatikerin der Familie:
„[Sie] hat auch erst mal ‘n Buch geschrieben, wie man mit Tieren redet, ist nach Indien gereist und hat Elefanten besucht und hatte dann Hunde, denen sie versucht [hatte], das Sprechen und das Schreibmaschineschreiben und das Klavierspielen beizubringen. [Sie] hatte mal ‘n Affen, dem wollte sie partout das Reden beibringen.“
Nicht nur solche Anekdoten, wie Elisabeth Mann auf jeden Fall, partout, Tieren menschliche Fähigkeiten beibringen wollte, sorgen dafür, dass bei diesen Jugendlichen durch das Projekt das Wissen über die Familie Mann gewachsen ist. Auch das Interesse für Museen insgesamt hat sich verändert, sagt Schüler Marten:
„Wenn man jetzt so in n‘ anderes Museum reingeht, hat man ‘n ganz andern Blick auf die Museen mittlerweile. Man geht nicht nur rein und geht dann mal durch und guckt sich alles so durch, sondern geht so durch die Halle und schaut: ‚Ah das ist jetzt da gut gemacht, das ist jetzt besser dargestellt, das ist ja ‘ne gute Raumaufteilung‘, oder so. Da guckt man jetzt schon drauf. Und man besucht schon häufiger das Museum dann nachher.“
Seit Marten an dem Schülerprojekt des Buddenbrookhauses teilnimmt, schaut er genauer hin, hat einen anderen Blick, wenn er in anderen Museen unterwegs ist. Was „ihre“ Ausstellung im neuen Buddenbrookhaus angeht, haben die Jugendlichen schon genaue Vorstellungen, wie diese spannender gestaltet werden kann:
„Also wir möchten ja nicht so lange Texte machen, weil ich zum Beispiel finde es sogar ‘n bisschen langweilig, wenn man jetzt in ein Museum geht und die ganze Zeit nur etwas liest, [sondern] dass man selber ‘n bisschen aktiver wird, finde ich, macht alles ‘n bisschen interessanter. / Einfach in die Ausstellung ‘n bisschen Farbe zu schaffen, vielleicht auch ‘n bisschen auf Medien eingehen, weil wir Jugendlichen ziemlich auf Medien fixiert sind. Und wenn man Medien einbaut, dann weckt das automatisch Interesse in dem Jugendlichen.“
Der Schüler hatte aber auch eine Idee, wie die Besucherinnen und Besucher gut ihren Weg durch die Ausstellung finden:
„Das Licht-und-Leitsystem. Also der Besucher wird durch Licht geleitet durch die Ausstellung, und man kriegt praktisch einen Musterweg vor und geht so von einer Station zur anderen Station. Und man hat dann halt automatisch so einen Museumsführer, ohne dass man eine Person hat, sondern einfach: Man nutzt das Licht. So wie wenn man Motten hat, die fliegen auch immer zum Licht – und so wird man einfach gelenkt.“
Für seinen „Museumsführer“ hatte der Jugendliche ein Beispiel aus der Tierwelt vor Augen: Kleinschmetterlinge, sogenannte Motten, die nachts gezielt künstliche Lichtquellen suchen und sie umschwirren. Für Kurator Tilmann Lahme ist die Herangehensweise der Jugendlichen hilfreich, alle Besucherinnen und Besucher gleichermaßen fesseln, sie begeistern, zu wollen, auch diejenigen, die „die Manns“ noch nicht so gut kennen:
„Im Prinzip ist das ‘n guter Ansatz, da erst einmal zu erklären: ‚Warum wollen wir das überhaupt machen? Wer waren die? Was haben die gemacht? Warum sollen die mich interessieren? Wobei die Schwierigkeit natürlich ist, dass man gleichzeitig diejenigen, die kein Vorwissen [mit]bringen, ja irgendwie fesseln möchte, hineinlocken möchte in eine solche Ausstellung, und aber auch diejenigen, die jetzt das 27. Mal ins Buddenbrookhaus kommen und die Sonderausstellung sehen wollen; und denen will man aber auch noch was Neues präsentieren. Thomas Mann hat da von der doppelten Optik gesprochen. Und das ist im Prinzip das, was uns auch interessiert.“
Thomas Mann formulierte diese Einstellung in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ noch ohne Verwendung des von Friedrich Nietzsche geprägten Begriffs der doppelten Optik so: Den „Glauben des breiten Publikums und die bewundernde Teilnahme der Wählerischen zugleich gewinnen“ beziehungsweise „die Wenigen zu gewinnen und die Vielen obendrein“.