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Das Martyrium der Schüler

Kersten Knipp4. November 2014

Rund 150 kurdische Schüler wurden über Monate von der Terrororganisation "Islamischer Staat" gefangen gehalten und gefoltert. Ihr Schicksal zeigt den Verfall ethischer Werte in weiten Teilen der arabischen Welt.

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Milizen der Terrororganisation "Islamischer Staat" (Foto: frei)
Milizen der Terrororganisation "Islamischer Staat"

Ihr Pech war es, zu den Falschen, nämlich den sogenannten "Ungläubigen", zu gehören. Rund 250 kurdische Schüler machten sich am frühen Nachmittag des 29. Mai von ihrer Schule auf den Heimweg in die syrische Stadt Kobane. Unterwegs wurden sie von Milizen der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) entführt. Die rund 100 Mädchen der Gruppe ließen die Entführer nach wenigen Stunden wieder frei. Für die Jungen aber begann ein Martyrium von mehreren Monaten.

Die Terroristen brachten sie in eine von ihnen besetzte Schule in die 55 Kilometer südwestlich von Kobane gelegenen Stadt Manbij. Dort hielten sie sie fest. In den folgenden Wochen ließen sie zunächst 50 Schüler frei. Danach durften immer weitere gehen, bis Ende Oktober dann sämtliche Schüler wieder in Freiheit waren.

Willkürliche Folter

Die Zeit bis dahin war allerdings ein Martyrium. Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) hat mehrere der freigelassenen Geiseln interviewt und deren Aussagen in einem soeben veröffentlichten Bericht dokumentiert.

Demnach wurden die Schüler immer wieder mit Elektrokabeln und Schläuchen geschlagen. Auch andere Gegenstände nutzten die IS-Milizen zur Folter. "Ich wurde einmal in einen Reifen gesteckt und geschlagen", berichtet einer der von HRW interviewten Schüler. "Manchmal erfanden die Entführer auch Gründe, um uns zu schlagen."

Die Entführer zwangen ihre Opfer, Passagen aus dem Koran auswendig zu lernen. Schafften sie das nicht, wurden sie geschlagen. Ebenso wurden sie gezwungen, fünfmal am Tag zu beten. Versäumten sie die Gebete, wurden sie ebenfalls misshandelt. Kollektivstrafen gab es immer dann, wenn einem oder mehreren Jungen die Flucht gelungen war. In diesen Fällen gehörte zu den Strafen auch der Entzug von Nahrungsmitteln. Ebenfalls wurden die Teenager dazu gezwungen, sich Enthauptungsvideos anzuschauen.

Protest gegen den IS in Afghanistan, 12.10.2014 (Foto: Hambastagi)
Protest gegen den IS in AfghanistanBild: Hambastagi

Die Jungen wurden in verschiedenen Räumen gehalten, die sie nicht verlassen durften. Als einer von ihnen dennoch den Raum seiner Freunde aufsuchte, wurde er erwischt. Man fesselte ihn und hängte ihn in einer schmerzhaften Position auf. Der Junge begann zu weinen und rief nach seiner Mutter. Daraufhin sagten ihm seine Peiniger, er solle nach Gott rufen, nicht nach seiner Mutter.

Unter ihren Entführern, berichten die Schüler, waren außer ihren syrischen Landsleuten auch Jordanier, Libyer, Tunesier sowie Bürger aus Saudi-Arabien. "Die syrischen Wachen waren aber die schlimmsten und schlugen uns am brutalsten", berichtet einer der Entführten.

Ethischer Niedergang

Der über Monate anhaltende Sadismus der Entführer wirft einmal mehr ein Licht auf die in weiten Teilen der arabischen Welt herrschenden politischen, kulturellen und psychologischen Verhältnisse. Nach Ansicht zahlreicher Intellektueller hat der Nahe Osten in den letzten zehn Jahren einen beispiellosen Niedergang der politischen Kultur ebenso wie ethischer Standards erlitten. Dazu trugen ihrer Ansicht nach die repressiven säkularen Regime ebenso bei wie die konservativen Monarchien auf der Arabischen Halbinsel. "Die arabische Welt", schrieb der Journalist und Publizist Samir Kassir, "ist die einzige Region, in der das demokratische Defizit sich praktisch über alle Länder erstreckt. Mit der Folge, dass die Diktatur, auch wenn sie sich derzeit auf drei Länder - den Irak , Syrien und Libyen - erstreckt, auch auf die gesamte übrige Region abfärbt, die Pseudo-Demokratien in einem relativen Licht erscheinen lässt und die Freiheiten aushöhlt".

Die Folgen dieser Diktatur, schrieb Kassir in seinem berühmten Buch "Considérations sur la malheur arabe", ("Betrachtungen über das arabische Unglück") hätten zu einer unerhörten politischen Gewalt geführt. Kassir sollte auf tragische Weise recht behalten: Er wurde im Juni 2005 vor seinem Haus in Beirut von einer Autobombe zerrissen. Seine Anhänger machen das syrische Assad-System für das Attentat verantwortlich. Kassir hatte immer wieder den Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon gefordert.

Syrische Flüchtlinge bei Suruc in der Türkei, 02.10.2014 (Foto: Reuters)
In Sicherheit: kurdische Flüchtlingskinder aus Syrien in der TürkeiBild: Reuters/Murad Sezer

Auch der palästinensisch-libanesische Schriftsteller Elias Khoury findet die Ursachen der Gewalt in der Herrschaft der korrupten Regime der vergangenen Jahrzehnte. "Statt die versprochene soziale Gerechtigkeit zu schaffen, zerstörten sie die Mittelschichten, machten die Armen noch ärmer, zerstörten moralische Werte und hinterließen eine jedem Angriff schutzlos ausgesetzte Gesellschaft", schreibt Khoury in einem Essay in dem Internet-Magazin Qantara.

"Islamischer Staat" als Nachfolger der arabischen Diktaturen

Die Brutalität dieser Regime hätte die Menschen dazu verleitet, sich an die Gewalt zu gewöhnen, das Recht des Stärkeren für gegeben zu nehmen und an friedliche Formen des Zusammenlebens kaum mehr zu glauben. Eine allgemeine Verrohung habe sich verbreitet. Diese habe sich nach dem vorläufigen Scheitern der arabischen Revolutionen und der Enttäuschung der in sie gesetzten Hoffnungen noch einmal verschärft. "Man frage einmal Frauen im Irak, in Syrien oder Libyen, wie sie von den dort damals herrschenden Banden entführt und vergewaltigt wurden - schon Jahrzehnte bevor ein Kalif Baghdadi und seine Krieger zum Abschlachten und zur Versklavung aufriefen. Die Kalifatsarmee ist nur ein neues Kapitel dieses Verfalls und führt zu Ende, was die vorigen Diktaturen noch nicht zustande gebracht hatten."

Opfer dieser Gewalt sind auch die kurdischen Schüler geworden. Sie haben überlebt. Aber auch ihr Martyrium zeigt, wie selbstverständlich Gewalt und vor allem die Anwendung von Gewalt für manche Menschen im Nahen Osten geworden ist.