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Politik

Das große Blau

6. August 2018

In Berlin finden seit diesem Montag die Leichtathletik-Europameisterschaften statt. Einer der Stars: die blaue Bahn. Sie war bereits Ort großer sportlicher Dramen. Die Kunstgeschichte liefert Hinweise, warum das so ist.

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Deutschland Berlin Olympia-Stadion Blaue Tartanbahn
Bild: picture-alliance/dpa/S. Stache

Wenn Spitzenleistungen eine Farbe haben, dann wird man in Berlin sagen dürfen, sie seien blau. Ein kräftiges, strahlendes Blau, kraftvoll und konzentriert: Königsblau, die Farbe des Sportvereins Hertha BSC Berlin, der im Berliner Olympiastadion sportlich zu Hause ist.

Blau und Sport: Das passt. Blau ist die Farbe des Himmels. Auch die Farbe des Wassers. Luc Besson besang sie in "Le grand bleu", seiner großartigen filmischen Fiktion von 1988 über das Duell zweier Freitaucher auf Sizilien. Blau ist dort die Farbe des Unwahrscheinlichen: Über quälend lange Minuten tauchen seine Helden in die Tiefe, mit keinem anderen Sauerstoff als dem in der Lunge gespeicherten. "Wie kann er da unten atmen?" fragt ein ungläubiger Beobachter. "Er tut es nicht", erhält er zur Antwort.

Das Blau zeigt den Menschen an seiner Grenze, im Meer ebenso wie auf der Laufbahn: Hier wie dort ist er ein Winzling, ein Nichts, gemessen an dem, was ihn umgibt. Das Meer signalisiert Unendlichkeit schon auf den ersten Blick, die Stadionbahn holt das - fast - Grenzenlose durch die Wiederholung rein: 400 Meter ist eine Bahn lang, multipliziert mit 25 ergibt 10.000 Meter: eine der Königsdisziplinen der Leichtathletik, auch sie ein Ort des kaum für möglich Gehaltenen.

Unglaubliches lässt sich allerdings schon auf einem Bruchteil dieser Strecke hinlegen. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009, ebenfalls auf der blauen Bahn in Berlin, brauchte der Jamaikaner Usain Bolt für 100 Meter gerade 9,58 Sekunden. Die 200 Meter durchrauschte er in 19,19 Sekunden. Zwei Weltrekorde, ungebrochen bis heute.

Flash-Galerie Leichtathletik Weltmeisterschaft 2009 Berlin
Sprung ins Nichts: Jelena Issinbajewa bei der Weltmeisterschaft 2009 in BerlinBild: AP

Blau getönt war 2009 auch der Kampf der Stabhochspringerin Jelena Gadschijewna Issinbajewa, als Olympiasiegerin, Europa- und Weltmeisterin damals eine der ganz Großen in der Szene. 26 Mal hatte sie ihren eigenen Rekord schon verbessert, sich jedes Mal ein, zwei Zentimeter höher in den Himmel geschraubt. Und nun Berlin. Siegen, einfach nur siegen? Nein, das reizte sie nicht. Sie wollte mehr: Sie wollte spektakulär siegen. So begann sie im Finale erst, nachdem alle Konkurrentinnen bereits gesprungen waren. Diese hatten sich die Querlatte auf 4,25 oder 4,40 legen lassen. Keine Höhe für Issinbajewa. Sie setzte bei 4,75 Meter an - und scheiterte. Anschließend ließ sie die Latte auf 4,80 Meter legen - und riss sie auch dieses Mal. Und blieb ohne Medaille. Hochmut, Hybris gar? Vielleicht. Aber doch eine inspirierende. Später triumphierte sie wieder, besiegte vor allem sich selbst. "Das langhaarige Hobbymodel in den kurzen Hosen verkauft den Menschen zudem die Illusion, dass nur der Himmel die Grenze sein kann", schrieb damals die Zeitung "Die Welt". In der Erinnerung sind diese Kämpfe blau, unauflöslich verwoben mit der Berliner Bahn.

Die blaue Revolution

Blau: Die Farbe erzählt dem Menschen viel über sich selbst. Sie erinnert ihn an das grundsätzlich Mögliche, auch wenn es noch so fern scheint. Wir Menschen schauen das Blaue gern an, "nicht wie es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht", notiert Goethe. "Nel blu, dipinto nel blu" heißt eines der bekanntesten italienischen Chansons, besser bekannt unter dem Titel "Volare", das eben davon handelt: vom Fliegen, anders gesagt: vom Abheben. Der Sprung nach oben, hinein in die Schwerelosigkeit, ein uralter Menschheitstraum, gefährlich und verlockend, für Dädalus ebenso wie Major Tom, den Helden aus dem vielleicht schönsten Song der Neuen Deutschen Welle - "völlig losgelöst" eben, und wenn wir uns anstrengen, so die Verheißung, geht es so auch weiter: "La Révolution bleue continue", versprach 1960 Yves Klein, der Großmeister des Blaus auf der Leinwand.

Wien Yves Klein Ausstellung The Blue Revolutio
"Die blaue Revolution geht weiter": Gemälde von Yves KleinBild: Getty Images/AFP/S. Kubani

Freilich geschehen Revolutionen nicht von selbst. Weder in der Kunst noch in der Leichtathletik. Die Leinwand, auf die Yves Klein seine strahlende Farbe trägt, ist in ihrem Minimalismus das exakte Gegenstück zur Bahn der Läufer oder der Querlatte der Springer. Beides, Kunst und Sport, finden in einem auf das Äußerste reduzierten Setting statt. Keine anderen Hilfsmittel hat der Mensch als seinen eigenen Körper, seinen Verstand und vielleicht und vor allem: seinen eigenen Willen. 

Kunst ist Revolution, indem sie den Menschen zum Schöpfer macht. Und wie Issinbajewa in den Himmel sprang, so beschwor ihn auch Wim Wenders in seinem "Himmel über Berlin". Claude Debussy setzte dem Blau in seiner sinfonischen Dichtung" La Mer" ein Denkmal, Paul Klee porträtiert die "Blaue Nacht", Miles Davis wagt sich in "Kind of Blue" an revolutionär neue Harmonien. Blau, scheint es, inspiriert zu kühnen Träumen. Von den "blauen Fernen" spricht der Dichter Novalis, hoffnungsfroh auch vom "blauen Schleyer der Zukunft". 

Jazztrompeter Miles Davis
Blaue Harmonien: Miles DavisBild: picture-alliance/akg-images/Binder

"Die blaue Zukunft"

Die blaue Zukunft öffnet sich nun auch den Sportlern in Berlin. Blau sei eine "fließende Farbe", sagt der Farbpsychologe  Harald Braem. Mehr noch, sie "verleiht Flügel", ist sogar "legales Doping". Das legale Doping beflügelte den Sprinter Tyson Gay bei den Weltmeisterschaften 2009 zu 9,71 Sekunden über hundert Meter. Er ist damit der zweitschnellste Läufer der Welt - und auch er überbot sich später selbst. Später wurde er dann des illegalen Dopings überführt - aber nicht in Berlin, nicht auf der blauen Bahn. Die könnte auch bei den nun beginnenden Europameisterschaften zu neuen Rekorden animieren. Das Zeug dazu hat sie. "Wer nach dem Blau fragt", notierte der Schriftsteller Uwe Kolbe, "der meint das ganze Leben."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika